You are currently viewing „Ich habe in meinem Sabbatical erkannt, wie viel mir die Gemeinschaft bei der Arbeit bedeutet“

„Ich habe in meinem Sabbatical erkannt, wie viel mir die Gemeinschaft bei der Arbeit bedeutet“

Die relativ ruhigen Tage im August haben Dirk Ehrhard und ich für ein Interview genutzt. Dirk und ich kennen uns seit ungefähr 9 Jahren aus der Coachingausbildung. Als ich erfahren habe, dass Dirk ein Sabbatical gemacht hat, war ich Feuer und Flamme, denn ich kenne einige Menschen in der Lebensmitte, die auch mit diesem Gedanken spielen.

Lieber Dirk, du bist Manager in einer IT-Abteilung bei Boehringer Ingelheim. Wie bist du auf den Gedanken gekommen, ein Sabbatical zu machen?

Da haben verschiedene Faktoren beigetragen. Zum einen bin ich schon sehr lange bei Boehringer. Das schöne an einem großen Konzern ist, dass man immer mal wieder etwas Anderes machen kann. Und so hatte ich vor meinem Sabbatical ungefähr alle 3-5 Jahre einen andere Aufgabenschwerpunkt. Es entspricht mir sehr, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu sehen. 2017 hatte ich die Gelegenheit eine neue Leitungsstelle zu übernehmen, die sehr gut zu mir passte und die ich gerne übernehmen wollte. Gleichzeitig habe ich aber auch gemerkt, dass da eine Sehnsucht in mir ist, anderen Teilen meiner Persönlichkeit mehr Raum zu geben. Ich mache z.B. seit Jahren zusammen mit einem Freund ein Initiationsprogramm für Jungs (weitere Infos, siehe Nacht des Feuers), meine Coaching-Aktivitäten und verschiedene andere Interessen, die ich gerne mehr leben würde. Ich hatte schon einige Jahre das Gefühl, dass diese anderen Anteile etwas zu kurz kommen. Das lag einerseits am Job, weil man in der Leitung naturgemäß immer bis an die Grenzen geht und dadurch wenig Freizeit übrig bleibt. Ich habe 3 Kinder, die zwar mittlerweile aus dem Haus sind, die aber über viele Jahre meines Lebens – glücklicherweise – einiges von meiner freien Zeit beansprucht haben. Jetzt bin ich in einer anderen Lebenssituation und möchte gerne diesen anderen Anteilen mehr Raum geben. Gleichzeitig habe ich bemerkt, dass auch die Lebensenergie weniger wird, wenn man die 50 überschritten hat.

Und wie bist du dann weiter vorgegangen?

Glücklicherweise gibt es bei Boehringer die Möglichkeit, ein Sabbatical zu nehmen. Da war ich sehr froh drum, denn es war mir auch wichtig, die Sicherheit zu haben, dass ich nach diesem Jahr auch wieder in die Firma einsteigen kann, wenn ich das möchte. Das ist das Schöne in der zweiten Lebenshälfte, wenn die Kinder aus dem Haus sind und die finanziellen Verpflichtungen weniger werden, dass man die Möglichkeit hat, mal aus der „Tretmühle“ auszusteigen und sie sozusagen von außen zu betrachten. Und so habe ich dieses Vorhaben schon bei Antritt der neuen Stelle, gut 1,5 Jahre bevor es tatsächlich losging, zusammen mit meinen Vorgesetzten eingeplant. Ich habe also sehr frühzeitig den Zeitpunkt bestimmt, an dem ich meine Aufgaben an den Nachfolger übergebe.

Wie hat die Firma darauf reagiert?

Die Bandbreite an Reaktionen war groß. Es gab Vorgesetzte und Manager-Kollegen, die sehr positiv waren und meinten, dass ich das unbedingt machen soll. Es gab aber Kollegen, die es nicht verstehen konnten. Für sie war dieser Schritt gleichbedeutend mit der Beendigung meiner Karriere in der Firma. 

Du bist ein “Baby-Boomer” – welche Perspektiven siehst du für diese Generation was die Rente angeht?

Ich bemerke in der Firma, aber auch in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion, dass wir nicht mehr so ohne weiteres mit Anfang 60 ins Rentenalter entlassen werden können. In der Generation meiner Eltern war das noch leichter möglich, aber inzwischen denke ich, dass es zu teuer und gesamtgesellschaftlich zu ineffizient ist, so viele Menschen früher in Rente zu schicken.

Hattest du im Vorfeld auch überlegt, lieber noch ein paar wenige Jahre weiterzuarbeiten und dann mit z.B. 60 ganz aus der Firma rauszugehen?

So bin ich nicht. Ich schiebe Dinge ungern auf später auf. Erstens weiß man nicht, ob es ein später gibt und zweitens geht es auch um den richtigen Zeitpunkt. Wenn ich das Gefühl habe, jetzt ist es dran, dann möchte ich es auch so schnell wie möglich machen.

Sehr interessant. Kannst du dieses “jetzt-ist-es-dran”-Gefühl beschreiben?

Es hat sehr viel zu tun mit der Bereitschaft, innerlich loszulassen und zu springen. Es ist, wie wenn ich auf einem 10 Meter Sprungturm stehe. Die Ratio sagt mir, dass nichts passiert, dass beim Reinspringen noch nie jemand wirklich zu ernsthaftem Schaden gekommen ist. Trotzdem steht man da und merkt einerseits, dass man es machen möchte, aber andererseits hat man auch Heidenrespekt und Schiss davor. Und dann gibt es diesen Moment, in dem ich alles loslasse und dem einen Teil in mir folge, der springen will.

Was hat dir dabei geholfen?

Sicherlich hilfreich waren die Seminare, die ich gebe, und meine Coachingarbeit und Begleitung von Menschen. Darin geht es immer wieder darum, Dinge loszulassen und einen Neuanfang zu wagen. Das geht nur, wenn wir einmal auf unser tieferes Bewusstsein hören und das Tagesbewusstsein, das die Dinge gerne am liebsten so ließe wie sie sind, mal zurückzustellen. Wir haben viele Jahre daran gearbeitet, uns ein hohes Level an Sicherheit (Geld, Haus, Familie, usw.) zu verschaffen. Wenn ich das jetzt aufgebe, dann stelle ich dadurch die Arbeit der vielen Jahre in Frage.

Da kommt das Thema Weiterentwicklung ins Spiel. Wie denkst du darüber?

Nur wenn ich das Alte loslasse, kann etwas Neues in unser Leben kommen. Das wissen wir als systemische Coaches, und das sagen auch die Psychologen und Philosophen. Es geht nicht darum, dass wir das Alte wegschmeißen. Wir dürfen uns bewusst machen, dass wir mehr sind als das, was wir scheinbar haben. Nur wenn wir springen, können wir erfahren, was wir jenseits des Habens sind. Auch wenn wir das zum Zeitpunkt des Sprungs noch nicht wissen. Meine Erfahrung ist, dass wir das Alte weiterhin behalten. Aber wir müssen aufhören, daran zu glauben, dass wir das sind, was wir bis dahin erreicht haben.

Und jetzt zu deinem Sabbatical. Was hast du in der Zeit getan?

Ich hatte vor 4 Jahren an einer Visionssuche teilgenommen und dabei festgestellt, dass es zwei sehr wichtige Dinge vereint: meine Liebe zur Natur und das Begleiten von Veränderungsprozessen. Diese Elemente setze ich beruflich in Change Management Projekten um und in meiner Freizeit als Kursleiter. Nach der Visionssuche war mir klar, dass ich diese Art der Arbeit professionalisieren möchte und habe die Weiterbildung Initiatorische Naturpädagogik vor einiger Zeit begonnen.  Das dritte Jahr dieser Ausbildung ist sehr intensiv und ich habe das Sabbatical genutzt, um diese Weiterbildung weitestgehend abzuschließen.

Dann habe ich die Zeit auch genutzt, um mir verschiedene Kurse und Weiterbildungen anzuschauen und mir zu überlegen, was ich noch gerne machen möchte. Corona-bedingt war das Angebot allerdings nicht so reichhaltig wie zu anderen Zeiten. Dennoch habe ich einen guten Eindruck der Möglichkeiten bekommen und was für mich in Frage kommt. 

… und dann hast du ja auch noch etwas ganz anderes ausprobiert: das Van-Life und das zu Fuß unterwegs sein.

Ja genau. Mit meiner Partnerin und dem VW-Bus habe ich dieses Leben ausführlich ausprobiert. Im November sind wir nach Kreta gefahren – und wussten bei der Abreise nicht, wie lange wir bleiben wollten. Nach 5 Monaten sind wir dann an den Punkt gekommen, dass wir uns wirklich auf zu Hause gefreut haben. Es war sehr inspirierend, “auf der Straße” zu leben, wo wir viele unterschiedliche Menschen mit ganz anderen Lebensentwürfen getroffen haben. Ich kann es wirklich nur jedem empfehlen, eine Zeit lang, diese Art zu leben auszuprobieren.

Wie war das zu Fuß unterwegs sein für dich?

Ein Teil in mir wollte schon immer mal so lange für mich alleine laufen bis ich keine Lust mehr habe.  Letztendlich war ich 3 Wochen in Italien auf dem Franziskusweg unterwegs. Bei der Ankunft in Assisi stellte sich das Gefühl ein, dass es jetzt genug ist und dieses Kapitel abgeschlossen ist. Dieses Gefühl hatte ich vorher noch nie erfahren und ich bin sehr dankbar dafür. Im Laufe des Sabbaticals habe ich immer wieder Dinge so lange gemacht, bis ich an eine natürliche Grenze gestoßen bin und wieder bereit für etwas Neues war. Diese Erfahrung ist in einem Alltag, der von Beruf und Routinen bestimmt wird, so gar nicht möglich.

Das führt uns zu den Erkenntnissen aus diesem Jahr. Was waren wesentliche Einsichten für dich?

Die Frage ist super und gleichzeitig erzeugt sie eine Art Druck.  Es steckt die Erwartung dahinter, dass man in dieser Zeit irgend etwas geleistet haben müsste. Dahinter steckt die Vorstellung, dass wir den Wert der Zeit eines Menschen bemessen können, und das halte ich für eine ganz gefährliche Falle. Es entsteht schnell der Eindruck, man müsste sich rechtfertigen für diese Zeit. Den anderen gegenüber und nicht zuletzt auch sich selbst.

Nun aber zu den Einsichten. Eine überraschende Einsicht betrifft meinen Job. Vor meinem Sabbatical war ich 28 Jahre bei der Firma und das führt dazu, dass man in eine Art Trott verfällt und sich eine gewisse Müdigkeit einstellt. Ich habe in meinem Sabbatical erkannt, wie viel mir die Gemeinschaft bei der Arbeit bedeutet. Das konnte ich vor diesem Jahr nicht mehr sehen. Ich freue mich richtig darauf, jetzt wieder in die Firma einzusteigen. Es ist einfach erfüllend, zusammen mit meinem Netzwerk in der Firma, wieder Dinge bewegen zu können: wir machen Menschen gesünder.

Gab es noch andere Einsichten?

Das Van-Life hat mir gezeigt, mit wie wenig ich auskomme. Als wir nach 5 Monaten aus Kreta zurückkamen und den Bus ausgepackt haben, waren es überraschend wenig Dinge, die da auf einem kleinen Haufen im Wohnzimmer lagen. Das hat mir vor Augen geführt, wie wenig ich die vielen anderen Dinge, die ich besitze, vermisst habe. In der Folge haben meine Partnerin und ich 6 Wochen lang radikal ausgemistet. Ich glaube, ich habe die Anzahl der Dinge, die ich besitze, um 80% reduziert. Die Zeit zu haben, sich von Gegenständen, die vielleicht eine Erinnerung hervorrufen, die man aber eigentlich nicht braucht, zu verabschieden und sie loszulassen, ist ein Luxus. Es entstehen dadurch innere Freiräume, weil nicht mehr so viele Gedanken gebunden sind. Das Verwalten von so vielen Dingen bindet Lebenskraft. Das ist mir durch diese Erfahrung klar geworden. Ohne das Sabbatical wäre ich nicht an diesen Punkt gekommen, denn niemals hätte ich eine Woche meines Jahresurlaubs für das Aufräumen verwendet.

Lieber Dirk, ich danke dir für dieses inspirierende Gespräch und wünsche dir alles Gute für deinen beruflichen Wiedereinstieg

  • Wer mehr über das Sabbatical wissen möchte, ist herzlich eingeladen, in Dirks Blog zu stöbern.
  • Informationen zu Dirks Kursen und die Termine befinden sich hier.

Dir hat der Beitrag gefallen und du willst keinen weiteren Beitrag mehr verpassen?

Dann trage dich für meinen Newsletter, korinas buntbrief, ein. Du erhältst alle 2 Wochen Impulse, Strategien und Tipps für deine persönliche Weiterentwicklung in der Lebensmitte. Und falls dir der buntbrief wirklich nicht gefallen sollte, kannst du dich jederzeit mit einem Klick wieder davon abmelden.


Schreibe einen Kommentar