„Wunschlos glücklich“ – diese Formulierung begegnet uns oft als Ausdruck höchster Zufriedenheit. Doch was bedeutet es eigentlich, keine Wünsche mehr zu haben? Ist dies ein erstrebenswerter Zustand oder vielleicht sogar ein Warnsignal? Die Antworten darauf fallen je nach Perspektive sehr unterschiedlich aus: Während die westliche Psychologie Wünsche als Motor für persönliches Wachstum sieht, betont die buddhistische Lehre die Bedeutung des Loslassens. Zwischen diesen Polen bewegt sich die Frage, ob und unter welchen Umständen Menschen ohne Wünsche glücklich sein können – und ob Wunschlosigkeit überhaupt ein erstrebenswertes Ziel ist.
Ist es möglich, wunschlos glücklich zu sein?
Ich weiß nicht, ob es möglich ist, aber unter den folgenden Voraussetzungen halte ich es für denkbar:
- Wenn jemand einen tiefen inneren Frieden gefunden hat und mit sich selbst im Reinen ist, können äußere Wünsche in den Hintergrund treten. Dies vermute ich am ehesten bei Menschen, die durch Meditation oder spirituelle Praktiken eine besondere Form der Gelassenheit erreicht haben.
- Menschen, die von liebevollen, authentischen Beziehungen umgeben sind – sei es Familie, Freunde oder Partner – können ein so tiefes Gefühl von Geborgenheit und Verbundenheit erleben, dass materielle Wünsche nebensächlich werden. Wobei ich zu bedenken gebe, dass es dann vielleicht den Wunsch gibt, dass es den geliebten Menschen gut gehen möge.
- Wer das Gefühl hat, seine Bestimmung gefunden zu haben und etwas Bedeutsames zur Welt beizutragen, kann eine tiefe Form von Zufriedenheit erreichen. Dies kann durch einen erfüllenden Beruf, ehrenamtliches Engagement, aber auch durch kreatives Schaffen entstehen.
- Manchmal erkennen Menschen durch Lebenserfahrung oder bewusste Reflexion, dass viele Wünsche gesellschaftlich konditioniert sind und nicht ihren wahren Bedürfnissen entsprechen. Diese Erkenntnis kann zu einer Form von Freiheit und Zufriedenheit führen.
Allerdings stellt sich mir die Frage: Ist ein Zustand völliger Wunschlosigkeit überhaupt natürlich für den Menschen?
Wünsche und Streben: Fundamentale Antriebe des Menschseins
Die Idee, dass Wünsche und Streben fundamental zum Menschsein gehören, wird durch mehrere wissenschaftliche Theorien und Forschungsrichtungen gestützt. Besonders relevant ist hier die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan aus den 1980er Jahren.
Diese Theorie formuliert drei grundlegende psychologische Bedürfnisse:
- Autonomie (das Bedürfnis nach selbstbestimmtem Handeln)
- Kompetenz (das Bedürfnis, wirksam zu sein und Herausforderungen zu meistern)
- Soziale Eingebundenheit (das Bedürfnis nach bedeutsamen Beziehungen)
Das Entscheidende ist: Diese Theorie sieht Menschen als von Natur aus aktiv und entwicklungsorientiert. Das bedeutet, wir haben einen inhärenten Drang zur persönlichen Weiterentwicklung und zum Wachstum. Dieser Drang manifestiert sich in Form von Wünschen, Zielen und Bestrebungen.
Auch die positive Psychologie, insbesondere Maslows Konzept der Selbstverwirklichung, unterstützt diese Sichtweise. Maslow beschrieb das Streben nach Selbstverwirklichung als höchstes menschliches Bedürfnis – ein nie endender Prozess der Entwicklung des eigenen Potentials.
Auch neurobiologisch spricht einiges gegen Wunschlosigkeit: Dopamin wird nicht nur bei der Erfüllung von Wünschen ausgeschüttet, sondern bereits bei der Antizipation von Zielerreichung. Dies deutet darauf hin, dass der Prozess des Strebens selbst biologisch „belohnt“ wird und damit evolutionär verankert ist.
Der buddhistische Umgang mit Wünschen
Wer an Wunschlosigkeit denkt, dem fällt vielleicht der Buddhismus und die Lehre der Nicht-Anhaftung ein. Doch diese Lehre bedeutet keineswegs, völlig ohne Wünsche zu leben. Vielmehr geht es um eine differenzierten Betrachtung:
- Wünsche als natürlicher Bestandteil des Menschseins: Der Buddhismus erkennt an, dass Wünsche ein unvermeidlicher Teil des menschlichen Erlebens sind.
- Leiden durch Festhalten: Nach buddhistischer Auffassung entsteht das Leiden nicht durch die Wünsche selbst, sondern durch das krampfhafte Festhalten an ihnen.
Der entscheidende Unterschied zur westlichen Perspektive liegt im Konzept des „mittleren Wegs“: Wünsche dürfen vorhanden sein und verfolgt werden, jedoch ohne zwanghafte Fixierung auf ein bestimmtes Ergebnis. Dieser Ansatz lässt sich als „engagiertes Loslassen“ beschreiben.
Es geht also weniger darum, ob wir Wünsche haben, sondern vielmehr darum, wie wir mit ihnen umgehen. „Wunschlos glücklich“ bedeutet nicht, völlig ohne Wünsche zu sein, sondern frei von der Tyrannei der Wünsche. So bleibt man handlungsfähig und engagiert, ohne sich im Erfolgszwang zu verlieren.
Wünsche als Lebensenergie
Das Wünschen findet in einem Spannungsfeld statt zwischen dem Leben im Hier und Jetzt und dem Leben in der Zukunft. Wenn wir zu sehr auf die Wünsche schauen, verpassen wir das Leben. Aber was ist, wenn wir gar keine Wünsche formulieren können? Welcher Mechanismus führt uns dann dazu, dass wir Neues ausprobieren? Was hilft uns dabei, schwierige Phasen auszuhalten? Was inspiriert uns? Ich behaupte, dass den meisten Menschen, die gar keine Wünsche haben, etwas fehlt und denke dabei an Begeisterung, Leidenschaft oder ganz allgemein Lebensenergie.
Als Kind fragte ich meine Mutter zuweilen, was sie sich zum Geburtstag wünscht. Die regelmäßige Antwort war: „Nichts – ich hab doch alles, was ich brauche.“ Das konnte ich damals überhaupt nicht verstehen. Ich hatte ständig Wünsche: die Puppe, das Fahrrad, besondere Malutensilien …. Heute kann ich meine Mutter besser verstehen. Ich habe genügend Geld, um mir die meisten Wünsche erfüllen zu können. Und ich finde auch, dass ich schon alles habe, was ich brauche.
Dennoch ist das Wünschen für mich wichtig. Mir etwas zu wünschen, ist Ausdruck meiner Lebensenergie. Es ist wie eine Wette auf die Zukunft: Ich werde noch ausreichend Gelegenheit haben, viele neue Erfahrungen in meinem Leben zu machen. Ich bin noch hungrig auf diese Erfahrungen, habe noch nicht mit allem abgeschlossen.
Ich freue mich darüber, dass meine Bucket-List prall gefüllt ist und ich mich von dieser langen Liste immer wieder inspirieren lassen kann. Dieser Punkt scheint mir wichtig: Wünsche formulieren zu können, bedeutet nicht automatisch, dass wir das Leben im Jetzt vernachlässigen.
Was, wenn ich keine Wünsche formulieren kann?
Wir haben eingangs gesehen, dass es auch Menschen gibt, die ohne Wünsche glücklich sind. Allerdings ist es auch möglich, dass die Wunschlosigkeit tiefere Ursachen haben kann und die Gleichung „wunschlos=glücklich“ nicht immer aufgeht.
Ein depressiver Mensch hat vermutlich keine Wünsche im oben skizzierten Sinn. Dafür ist er zu interesse- und antriebslos. Es ist Teil der Krankheit, dass es so ist.
Keine Wünsche zu haben, kann auch ein Ausdruck dafür sein, dass man sich vor Enttäuschungen schützen will. Wenn ich nicht formuliere, dass ich gerne einmal nach Paris reisen würde, dann ist es auch nicht schlimm, wenn es nicht passiert.
Möglicherweise gibt es eine innere Überzeugung, dass erst die Pflicht und dann das Vergnügen kommen darf. Wenn die Pflicht dann schon die gesamte verfügbare Zeit beansprucht, dann bleibt eben kein Raum mehr für das Wünschen. Man muss sich das Wünschen auch selbst erlauben können und den inneren Raum dafür schaffen.
Es gibt sicher noch andere innere Überzeugungen, die dem Wünschen im Weg stehen können. Es kann auch ein Hinweis darauf sein, dass du dich gerade in einer Phase der Überforderung oder Orientierungslosigkeit befindest.
Wie finde ich meine Wünsche?
Wenn man wirklich nicht weiß, was man will, ist es trotzdem möglich, das in einem behutsamen Suchprozess herauszufinden. Der Weg kann beispielsweise über das Herausfinden von Werten, den Vorlieben als Kind oder nicht verwirklichter Träume führen.
Manchmal braucht es auch die eigene innere Erlaubnis: Ja, ich darf diesen Wunsch haben und es ist vollkommen in Ordnung, Wünsche zu haben. Ich möchte davor warnen, sich mit der Suche nach den eigenen Wünschen selbst unter Druck zu setzen. Es kann viele Gründe haben, warum jemand keine Wünsche hat. Es lohnt sich, auf Spurensuche zu gehen – vielleicht auch mit Unterstützung eines Coaches.
Noch eine Ergänzung: Ein Wunsch ohne Umsetzung ist ein Traum. In der Regel werden Wünsche erst durch die Formulierung von Zielen und einen Handlungsimpuls wahr. Mehr zur Unterscheidung von Wünschen und Zielen findest du in diesem Beitrag: Wünsche und Ziele: Wie sie zusammen deine Träume wahr machen.
Fazit: Der goldene Mittelweg zwischen Wünschen und Loslassen
Die Auseinandersetzung mit dem Thema Wünsche zeigt: Es geht weniger um die Frage „Wünsche ja oder nein“, sondern vielmehr um unseren Umgang mit ihnen. Wünsche können Ausdruck von Lebendigkeit und Entwicklungspotential sein, aber auch zu Leid führen, wenn wir zu sehr an ihnen festhalten. Der „goldene Mittelweg“ liegt vielleicht darin, Wünsche als natürlichen Teil des Lebens zu akzeptieren, ohne von ihnen beherrscht zu werden. Entscheidend ist dabei die Balance: Wünsche können uns inspirieren und motivieren, sollten uns aber nicht den Blick auf das Hier und Jetzt verstellen. Wer diese Balance findet, muss sich möglicherweise nicht zwischen „wunschlos“ und „glücklich“ entscheiden – sondern kann beides in Einklang bringen.
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