Gestern war ich im Kino und habe mir den hoch dekorierten Film Nomadland angeschaut. Es interessiert mich, wie die wirtschaftlichen Bedingungen das Leben beeinflussen. Und so hatte ich erwartet einen Film zu sehen, der zeigt wie Menschen, die aus den sozialen Sicherungssystemen herausfallen, als Arbeitsnomaden leben. Diese Erwartung wurde erfüllt. Und es gab noch andere überraschende Einsichten. Welche, das beschreibe ich in diesem Blogbeitrag.
Die Handlung
Der Film wird aus der Perspektive der 60-Jährigen Fern (großartig gespielt von Frances McDormand) erzählt. Wir erfahren, dass sie mit ihrem Mann in der Stadt Empire gelebt hat. In Empire wurde Gips abgebaut. Als die Gipsmine geschlossen wird, verfällt die Stadt, aber Fern bleibt dort mit ihrem erkrankten Mann. Als der Mann stirbt, verlässt sie die Stadt – ihre Heimat – und begibt sich auf eine Fahrt durch den Südwesten der Vereinigten Staaten. Sie nimmt verschiedene Saisonarbeiten an, z.B. als Kommissioniererin bei Amazon, bei der Zuckerrübenernte oder in einem Freizeitpark. Immer wenn die Arbeit zu Ende ist, reist sie weiter.
Als der Winter in Nevada zu eisig wird, reist sie nach Arizona zu einer Vereinigung obdachloser Menschen. Es ist ein Camp, das von Bob Wells, gegründet und geleitet wird. Er will den Obdachlosen dabei helfen, gut mit ihrem Leben auf der Straße zurechtzukommen. Bob – und die meisten anderen Darsteller in dem Film – spielen sich selbst. Ganz nebenbei habe ich bei meinen Recherchen herausgefunden, dass Bob außerdem einen YouTube Kanal unterhält (CheapRVliving) und eine non-profit Organisation namens Homes on Wheels Alliance, um die Obdachlosen bestmöglich zu unterstützen.
Die Zuschauer erhalten im Laufe des Films einen Einblick in die verschiedensten Schicksale der Arbeitsnomaden. Die Begegnungen erscheinen zufällig, manchmal trifft Fern bestimmte Menschen wieder, aber die Zuschauer erfahren nicht, wie es dazu kommt. Wir erfahren, wie Fern die ganz alltäglichen Dinge ihres Alltags meistert. Das Leben auf der Straße wird weder glorifiziert noch verteufelt. Für Fern ist es das Leben ihrer Wahl, denn sie schlägt zwei Angebote aus, zurück in ein abgesichertes und sesshaftes Leben zurückzukehren.
Jäger, Sammler oder Bauer?
Schon im alten Testament treffen wir auf diese zwei sehr unterschiedlichen Lebensentwürfe: Jäger/Sammler (Nomaden) oder sesshafte Landwirte. Wir kennen die Geschichte von Kain und Abel. Kain ist eifersüchtig auf seinen Bruder Abel und erschlägt ihn: der erste Mord in der Bibel. Mir scheint, dass die Jäger und Sammler schon seit sehr langer Zeit keine guten Karten haben. In Afrika sehen wir bis heute Stammesfehden, in denen es um die Lebensgrundlagen geht (die Farmer entziehen den Nomaden diese Grundlagen schon seit langer Zeit). Wer sich in der westlichen Welt für ein Leben auf der Straße entscheidet, trifft auf viele Vorurteile. Sehr schön beschrieben übrigens in dem wundervollen Buch Der Salzpfad.
Das Leben geht seinen Gang: ob wir wollen oder nicht
Wir können das Leben nicht einfrieren: Kinder verlassen das Haus, Arbeitsleben gehen zu Ende, geliebte Menschen verlassen uns. Das sind Veränderungen, denen wir uns mutig stellen müssen. Es gibt ein wunderbares Gedicht von Rilke, das diese Ängste ausdrückt. Ich finde, es sind die Ängste er Sesshaften.
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Herbsttag von R.M. Rilke
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Sicherheit hat auch einen Preis
Was macht es mit uns, wenn wir die Heimat verlieren? Wenn vieles, was wir in der ersten Lebenshälfte aufgebaut haben, sich nahezu in Luft auflöst? Fern verliert ihren Wohnort, ihren Mann und vielleicht hatte sie auch eine Tochter (als sie alte Fotos betrachtet ist ein Mädchen zu sehen, das ihre Tochter sein könnte). Ihre Geschichte könnte eine ganz andere sein – sie könnte depressiv in der Trauer über ihre Verluste festhängen. Aber sie nimmt das Leben wie es kommt, verzichtet auf jegliche Sicherheiten.
Könnte ich das? Vermutlich nicht. Wie viel tun wir doch jeden Tag, um vermeintliche Sicherheiten zu erhalten? Wir arbeiten lange, um möglichst wenig Rentenabschläge zu riskieren. Wir arrangieren uns mit Kollegen, Nachbarn, Vereinen, Familie usw. weil sie uns ein Gefühl von Zugehörigkeit vermitteln. Es ist mir auch klar, dass das nicht jeder tut. Aber ich beobachte diese Tendenz nicht nur bei mir. Eine der Obdachlosen in dem Film erzählt die Geschichte ihres Mannes, der immer gearbeitet hat und als er dann endlich in den Ruhestand verabschiedet werden soll, stirbt er. Sein Traum war das Segeln, aber das Segelboot stand jahrelang unbenutzt in der Einfahrt des Hauses. Seine Witwe hat daraufhin ihre Arbeit gekündigt und sich für ein Leben auf der Straße entschieden. Weil sie es nicht zulassen will, dass auch „ihr Segelboot“ ungenutzt in der Einfahrt steht.
Fern ist 60 – sie hat kein Haus und sie baut sich wohl auch keines mehr. In keinem Moment hatte ich das Gefühl, sie bedauern zu müssen. Ihr Leben ist nicht immer einfach. Aber kein Leben ist immer einfach. Daran ändert auch nicht, ob wir ein Haus haben oder nicht. Fern genießt das Leben so wie es gerade kommt: die Gemeinschaft am Lagerfeuer oder die Arbeit bei Amazon. Sie überlässt sich dem Fluß des Lebens ohne ihn aufhalten zu wollen. Und mir scheint, das kann sie mit ihrer Lebensweise am besten.
Fazit
Der Film regt zum Nachdenken über große Fragen an: wie gehe ich mit Veränderung im Leben um? Wie passe ich mich an, um mich zugehörig zu fühlen? Wieviel Sicherheit brauche ich in meinem Leben? Was ist der Preis für diese Sicherheit? Der Blick auf einen ganz anderen Lebensentwurf hat mir gezeigt, dass die Antworten auf die Fragen relativ sind und es keine allgemeingültigen Antworten gibt.
Dir hat der Beitrag gefallen und du willst keinen weiteren Beitrag mehr verpassen?
Dann trage dich für meinen Newsletter, korinas buntbrief, ein. Du erhältst alle 2 Wochen Impulse, Strategien und Tipps für deine persönliche Weiterentwicklung in der Lebensmitte. Und falls dir der buntbrief wirklich nicht gefallen sollte, kannst du dich jederzeit mit einem Klick wieder davon abmelden.