Der Begriff Lebensmitte ist ziemlich schwammig. In diesem Beitrag denke ich über die Sprachverwirrung um die Lebensmitte nach. Je nach eigenem Alter versteht der Zuhörende nämlich etwas Anderes darunter. Anlass für diesen Beitrag war Nicole Isermanns Aufruf zu einer Blogparade, den ich spannend fand. Als Sprachexpertin und -liebhaberin fragt Nicole nach Beispielen für die Verhunzung unserer schönen deutschen Sprache. Sie fragt sich (und uns), ob die schöne deutsche Sprache den Bach runtergeht.
Midlife-Coach, Coach für die Lebensmitte oder Coaching 45Plus?
Ich bin Midlife-Coach, d.h. ich biete Coachings an für Menschen in der Lebensmitte. In schönster Regelmäßigkeit komme ich ins Grübeln über den Begriff Lebensmitte. Sind das Menschen über 40? Best Agers? 50Plus? Vielleicht erschließt es sich nicht unmittelbar, warum das für mich wichtig ist. Ich wende mich an Frauen, die sich in der Lebensmitte neu orientieren wollen und z.B. nach der Phase der Kindererziehung noch einmal beruflich etwas verändern möchten. Tatsächlich finden mich viele Frauen über 50, einige wenige auch früher.
Als 40something in der Lebensmitte?
Die Phase, in der die Kinder selbständiger werden und es wieder mehr Freiräume gibt, beginnt wenn aus Kindern Teenager werden. Dann sind es auch die Kinder, die diese Freiräume einfordern. Die Mütter sind dann im Durchschnitt etwa in den 40ern. Das Durchschnittsalter beim ersten Kind betrug 2020 30,2 Jahre. Wenn weitere Kinder kommen, dauert es noch etwas, bis auch das jüngste Kind Teenager ist. Die 40-45-Jährigen fühlen sich nach meiner Erfahrung durch den Begriff Lebensmitte noch nicht angesprochen.
Lebensmitte und Wechseljahre: Zwei die zusammengehören
Das könnte am Zusammenhang zwischen den Themen Lebensmitte und Wechseljahre liegen. Solange die Fruchtbarkeit noch durch einen funktionierenden Zyklus demonstriert wird, sieht frau sich eher noch in der ersten Hälfte. Die 40somethings mit Teenager-Nachwuchs spüren vermutlich erste körperliche Anzeichen der Wechseljahre, aber erkennen es vielleicht noch nicht als Wechseljahres-Symptome. In diesem Zusammenhang spielt es auch eine Rolle, dass das Thema Wechseljahre erst in jüngerer Zeit aus der Tabuzone befreit wird, größere mediale Aufmerksamkeit erhält und das Wissen bei den Betroffenen wächst.
50Plus, Milf oder Supermilf?
Weil die Lebensmitte mein Thema ist (siehe hierzu auch mein Beitrag: Was ist die Lebensmitte), habe ich einen Google Alert eingerichtet und erhalte in schönster Regelmäßigkeit Beiträge zu diesem Thema. Neulich z.B. einen Kurzbericht über Verena Pooths neues Buch „Die Supermilf“. Milf ist Pooths Begriffskreation für Frauen, die mitten im Leben sind. Und weil Frau Pooth nicht einfach nur eine 55-Jährige ist, sondern ein Mensch der Superlative, sieht sie sich selbst eben als Supermilf. Was mich wieder zu der Frage bringt, ob man mit 55 in der Lebensmitte ist, oder nicht eher im letzten Drittel.
Ich gestehe: Ich gehöre nicht zu Verena Pooths Fanclub. Aber ihre Supermilf-Kernbotschaft gefällt mir: Frauen ab 50 sind heute glücklicher, lustvoller, neugieriger und erfolgreicher denn je. Was mir überhaupt nicht gefällt ist der Begriff. Milf oder Supermilf – beides weckt Assoziationen an Krankheiten oder atomare Katastrophen in mir. Wobei wir wieder beim Thema der Blogparade wären: die Verhunzung der deutschen Sprache.
Wer sieht sich selbst gern als Senior?
Der Google Alert spült mir in schönster Regelmäßigkeit auch Informationen zum Tanz ab der Lebensmitte in mein E-Mail Postfach.
Warum spricht man von der Lebensmitte, wenn man Senioren ansprechen will? Meine Vermutung: niemand will Senior sein. Dazu ein Beispiel: Ich engagiere mich ehrenamtlich beim Luther-Treff in Reilingen. Unter dem Motto „Gutes Essen für Leib und Seele“ kochen Freiwillige einmal im Monat ein Mittagessen und jeder, der gerne in Gemeinschaft essen möchte, kommt vorbei. Dieses Angebot ist sehr beliebt bei Menschen über 65 – einige gehen parallel dazu auch zu den Seniorenveranstaltungen der Gemeinde. Aber eine 80-jährige Dame sagte mir einmal, dass ihr die Senioren zu alt seien und sie deshalb lieber zum Luther-Treff käme. Ein zweites Beispiel: Warum treffen sich Frauen, die deutlich jenseits der 50 sind, immer noch zum Mädelswochenende?
Eine interessante Ausnahme
Dass niemand Senior sein will, stimmt nicht ganz. Im Beruf gelten Stellenbezeichnungen mit dem Attribut „senior“ als Zeichen wachsender Expertise – und sind in der Regel verbunden mit mehr Status und mehr Einkommen. Es kommt also auf den Kontext und die Wertung an, die mit einem Begriff verbunden sind. Für mich liegt ein Grund für die nahezu babylonische Sprachverwirrung darin, dass Alter und Seniorität keine erstrebenswerten Qualitäten in den westlichen Industriegesellschaften darstellen. Das zeigen die Begriffe, die ich für über 50-Jährige gefunden habe.
Nomen est Omen: Sprachverwirrung um die Lebensmitte
Wenn man sich mit Begrifflichkeiten etwas näher beschäftigt, taucht erstaunliches zutage. Eine kleine Recherche hat die folgenden Begriffe für Menschen über 50 ausgespuckt.
- Generation X (1965 bis 1980 geboren), oder abgekürzt Xers
- Generation Gold
- Generation 50plus
- Silver/Golden/Best Ager
- Over 50s
- Baby Busters (in Anspielung auf die darauf anschließende Generation der BabyBoomer)
- Active Ager
- Pro Ager
- Vintage (wird für Dinge verwendet, die alt, klassisch, und von hoher Qualität sind – findet sich hauptsächlich auf Glückwunschkarten).
- 50plus-Club / Ü50-Club (man achte auf die Assoziation von Klub mit Jugendlichkeit, z.B. Bars, oder Musik-Klubs)
- Milf/Supermilf (siehe vorheriger Abschnitt)
Best Ager
Der Begriff Best Ager stammt begrifflich aus dem Marketing. Es ist eine euphemistische Bezeichnung für eine (kaufkräftigen!) Zielgruppe von Menschen über 50. Teilweise Synonym wird dazu der Begriff Mid-Ager verwendet. Tatsächlich gibt es keine eindeutige Abgrenzung. Interessant finde ich, dass die Marketing-Experten, die sich definitiv mit der Wirkung von Sprache auskennen, einen Euphemismus verwenden. Euphemismen werden benutzt, um Menschen oder Dinge aufzuwerten, zu schonen oder auch zur Vertuschung. Muss man Ältere schonen, indem man sie nicht als Senioren bezeichnet?
Älter werden ist heutzutage eine positive Erfahrung
Die Menschen werden immer älter und sie sind auch im Alter fitter als früher. Gleichzeitig lösen sich klassische Lebensmodelle auf. Es gibt immer mehr Menschen in der zweiten Lebenshälfte, die beispielsweise einen familiären oder beruflichen Neuanfang wagen. Das Zukunftsinstitut prognostiziert den Trend weg vom Anti- hin zum Pro-Aging oder, neutraler ausgedrückt, Free Aging. „Die Free-Ager hadern nicht mit dem Leben im Alter. Sie erleben ihre neu gewonnene Lebenszeit bewusst, individuell und jenseits des Rentnerdaseins.“
Warum es keine deutschen Begriffe für diese erfreuliche Entwicklung gibt? Ich kann nur mutmaßen, dass es daran liegt, dass sich für deutsche Ohren diese Begriffe attraktiver (oder gar jugendlicher?) anhören.
Wir sollten die Älteren nicht mit den Maßstäben der Jugend messen
Ich finde es sehr erfreulich, dass ich gute Chancen habe, bei guter Gesundheit 80 Jahre alt zu werden. Ich finde also nicht, dass ich das Älterwerden vermeiden müsste. Denn nur wenn ich älter werde, kann ich neue Erfahrungen machen und Gutes in der Welt bewirken.
Ich würde mir wünschen, dass das Alter nicht nach den Maßstäben der Jugend gemessen wird. Es gibt Qualitäten, die sich eher im Lauf des Lebens entwickeln und die auch wichtig für ein gutes Miteinander in der Gesellschaft sind: Erfahrung, Weisheit, Geduld, Gelassenheit, Großzügigkeit, Standhaftigkeit oder Zuverlässigkeit, um nur ein paar Qualitäten zu nennen. Weder die Jungen allein, noch die Älteren werden die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen vorwärtsbringen. Gemeinsam wird eine runde Sache draus.
Geht unsere schöne Sprache den Bach runter?
Sprache verändert sich immer – ob die Veränderung zwangsläufig negativ ist, kann ich nicht beurteilen. Sprache und Denken beeinflussen sich gegenseitig. Mir scheint, dass hinter der Sprachverwirrung ein negatives Bild vom Älterwerden steckt. Vielleicht führt eine babylonische Sprachverwirrung auch zu unklarem Denken? Was das bedeutet in Zeiten von künstlicher Intelligenz mag ich mir gar nicht ausmalen. Es lohnt sich definitiv, über den eigenen Sprachgebrauch nachzudenken. Deshalb danke ich Nicole Isermann für ihre Blogparade, durch die ich mir einmal die Zeit genommen habe, über meine eigenen sprachlichen Gewohnheiten nachzudenken