Du betrachtest gerade Gehen oder bleiben? Egal – Hauptsache bewusst!

Gehen oder bleiben? Egal – Hauptsache bewusst!

Stehst Du gerade vor einer wichtigen Entscheidung und fragst Dich, ob Du gehen oder bleiben sollst? Vielleicht überlegst Du, deinen Job zu kündigen, eine Beziehung zu beenden oder in eine neue Stadt zu ziehen. Je älter wir werden, desto mehr haben wir uns aufgebaut und vielleicht auch zu verlieren. Deshalb stellt uns die Frage „Gehen oder Bleiben?“ auch in der Lebensmitte vor große Herausforderungen und kann tiefe Unsicherheiten auslösen.

Vielleicht stellt sich diese Frage, weil wir aus den altvertrauten Verhältnissen herausgewachsen sind oder das Umfeld uns zu einer Entscheidung zwingt. Einerseits locken vielleicht die neuen Möglichkeiten, die mit der Veränderung einhergehen. Wenn da nicht die Verunsicherung darüber wäre, ob es wirklich die richtige Entscheidung ist! Man könnte schließlich auch vom Regen in die Traufe kommen?! In der Lebensmitte hat man genug Lebenserfahrung, um zu wissen, dass wir selbst auch oft Teil des Problems sind. Es könnte also durchaus sein, dass wir auch in der neuen Situation wieder auf ähnliche Herausforderungen treffen. Wie können wir sicher sein, dass wir die richtige Wahl treffen?

In diesem Artikel tauchen wir in die Psychologie der Entscheidungsfindung ein. Wir untersuchen, woher unser übermäßiges Bedürfnis nach Sicherheit stammt – von evolutionären Wurzeln bis hin zu persönlichen Erfahrungen. Aber es bleibt nicht bei der Theorie. Die Reflexionsfragen kannst Du ganz praktisch nutzen, um herauszufinden, was du wirklich willst. Denn egal, wie Deine Antwort lautet – Hauptsache Du entscheidest Dich bewusst dafür, zu gehen oder zu bleiben.

Leben ist Veränderung und Neuorientierung vorprogrammiert

Ein Leben ohne Veränderung ist nicht möglich. Die Natur macht es uns vor: Das Wetter und die Jahreszeiten ändern sich, Pflanzen und Lebewesen wachsen und vergehen. Auch körperlich verändern wir uns ständig: Die Zellen der Haut oder der Darmwand erneuern sich zum Beispiel innerhalb von Tagen oder Wochen. Auch psychologisch verändern wir uns: Als junge Erwachsene gründen wir Familie und bauen ein Nest dafür, während sich spätestens ab der Lebensmitte die Prioritäten verschieben. Und selbst wenn das bei uns selbst nicht der Fall ist, dann verändert sich das Umfeld. So wird beispielsweise der Autokonzern VW, der bis vor kurzem als Garant für sichere, lebenslange Jobs galt, wird massiv Stellen abbauen.

Kurzum: Stabilität gibt es nicht ohne Aktivität unsererseits. Wer das nicht sehen will (oder kann), manövriert sich in einen Zustand der Stagnation. Klaus Eidenschink hat 10 Tipps, um sicher zu stagnieren  beschrieben. Er definiert Stabilität als einen Zustand, indem eine Person frei ist zu entscheiden, ob sie Neues lernt oder Bewährtes beibehält. Eine Person, die stagniert, ist unfrei, weil sie die eigenen Muster nicht infrage stellen kann und sie auch dann beibehält, wenn sie ihm oder seiner Umwelt wiederholt und verlässlich Leid verschaffen. Der Weg in die Unzufriedenheit ist damit also vorprogrammiert. Hört sich ziemlich dumm an? Dann lies Dir einmal die folgenden (fiktiven) Beispiele durch:

Beispiel 1: Die unglückliche Beziehung

Susanne ist seit 25 Jahren in einer Beziehung mit Tom. Seit die beiden Kinder eigene Wege gehen, kriselt es in der Ehe. Sie streiten sich häufig und Susanne hat oft das Gefühl, emotional vernachlässigt zu werden. Trotzdem hält sie an der Beziehung fest. Einerseits hat sie Angst vor dem Alleinsein und die Routine der Beziehung gibt ihr ein Gefühl von Sicherheit. Außerdem will sie sich nicht eingestehen, dass ihr Traum von der lebenslangen, glücklichen Partnerschaft gescheitert ist. Sie ignoriert ihre Unzufriedenheit und sagt sich: „Alle Beziehungen haben Probleme“ oder „Es könnte schlimmer sein„. Weil sie ihr eigene Situation nicht kritisch hinterfragt, ist sie ständig unter emotionaler Belastung. Sie leidet unter Selbstzweifeln, Freundinnen ziehen sich zurück, weil die kriselnde Partnerschaft zu viel Raum einnimmt. Sie steigert sich so in die Vorstellung hinein, dass sich Tom ändern müsste, dass dadurch die Chance auf eine erfüllende Partnerschaft oder persönliches Wachstum als Single verpasst.

Beispiel 2: Der unzufriedene Angestellte

Marc, Buchhalter, 47 Jahre, ist seit 15 Jahren in seiner jetzigen Stelle. Seit einiger Zeit mag er diesen Job nicht mehr. Montags geht er mit Widerwillen ins Büro und immer wieder hat er depressive Phasen. Aber er hat verschiedene Gründe fürs Bleiben: Das stabile Einkommen. Die Angst vor der Bewerbung, auch familiäre Erwartungen spielen eine Rolle: Seine Eltern haben ihm beigebracht, dass ein sicherer Job das Wichtigste im Leben ist. Trotz seiner tiefen Unzufriedenheit und gelegentlicher Depressionen weigert sich Marc, seine Situation zu überdenken. Er rechtfertigt sein Verharren mit Sätzen wie „Ich bin zu alt für einen Jobwechel“ oder „Man muss zufrieden sein mit dem, was man hat„. Seine Unfähigkeit, dieses Denkmuster zu durchbrechen, hält ihn in einem Zustand der Unzufriedenheit gefangen, und wirkt sich negativ auf seine Gesundheit und sein soziales Umfeld aus.

Sicherheit spielt in beiden Beispielen eine Rolle. Aber woher kommt dieses starke Sicherheitsbedürfnis eigentlich? Bevor wir uns damit beschäftigen, wie wir unser Sicherheitsbedürfnis überwinden können, ist es wichtig zu verstehen, woher es kommt und warum es so stark sein kann.

Woher kommt ein starkes Sicherheitsbedürfnis?

Übernahme elterlicher Wertvorstellungen

Viele unserer grundlegenden Überzeugungen und Werte übernehmen wir unbewusst von unseren Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen in unserer Kindheit. Wenn unsere Eltern großen Wert auf Sicherheit und Stabilität legten, haben wir möglicherweise diese Einstellung verinnerlicht. Sätze wie „Such dir einen sicheren Job“ oder „Geh kein Risiko ein“ können tief in unserem Unterbewusstsein verankert sein. In diesem Beitrag habe ich übrigens darüber geschrieben, wie das Sicherheitsdenken unseren Mut beim Jobwechsel blockiert.

Frühe Erfahrungen von Unsicherheit

Traumatische Erlebnisse oder Phasen großer Unsicherheit in der Kindheit können zu einem ausgeprägten Bedürfnis nach Sicherheit im Erwachsenenalter führen. Wer beispielsweise finanzielle Not oder häufige Umzüge erlebt hat, könnte als Erwachsener besonders nach Stabilität streben.

Transgenerationale Ursachen

In grauer Vorzeit war das Streben nach Sicherheit überlebenswichtig. Unsere Vorfahren mussten ständig auf der Hut vor Gefahren sein, denn die Menschen waren den Umweltbedingungen viel direkter ausgesetzt als heute. Wilde Tiere, extreme klimatische Bedingungen oder Krankheiten haben zu einer deutlich niedrigeren Lebenserwartung geführt als wir sie heute kennen. Unachtsamkeit konnte direkt den Tod bedeuten. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass das Sicherheitsbedürfnis sehr tief verwurzelt ist.

Die Epigenetik-Forschung hat uns gezeigt, dass traumatische Erfahrungen nicht nur beeinflussen können, welche unserer Gene aktiviert oder unterdrückt werden, sondern dass diese Veränderungen auch an unsere Nachkommen weitergegeben werden können. Wenn beispielsweise in der Familienhistorie Flucht und Vertreibung eine Rolle gespielt haben, können diese Erfahrungen bis heute wirksam sein, auch wenn die ursprüngliche Bedrohung längst nicht mehr existiert.

Warum es so schwierig ist, das Sicherheitsdenken zu durchbrechen

Selbst wenn wir erkennen, dass unser Sicherheitsstreben uns einschränkt, fällt es oft schwer, dieses Muster zu durchbrechen. Dafür kann es viele Gründe geben – ich nenne hier fünf davon:

  1. Das authentische Selbst ist nicht gut entwickelt:
    Viele Menschen haben den Kontakt zu ihrem wahren Ich verloren. Sie haben sich so sehr an externe Erwartungen und gesellschaftliche Normen angepasst, dass sie ihre eigenen, authentischen Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr klar erkennen können.
  2. Wenig Selbstvertrauen / Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten:
    Jahre des Festhaltens an vermeintlich sicheren Optionen können unser Selbstvertrauen untergraben. Wir zweifeln an unserer Fähigkeit, mit Veränderungen und Herausforderungen umzugehen.
    Die Angst vor dem Scheitern wird größer als die Hoffnung auf Erfolg, was uns in bekannten, aber unbefriedigenden Situationen festhält. In diesem Beitrag habe ich einige Anregungen gesammelt, die dir dabei helfen können die Angst vor dem Jobwechsel zu überwinden.
  3. Die innere Stimme wird nicht gehört/gespürt:
    In einer lauten, schnelllebigen Welt haben viele Menschen verlernt, auf ihre innere Stimme zu hören. Stress, ständige Ablenkungen und die Flut an äußeren Meinungen übertönen die leise Stimme in uns, oder anders ausgedrückt, unsere Intuition.
    Ohne die Fähigkeit, auf unser Inneres zu hören, fehlt uns eine wichtige Orientierungshilfe bei Entscheidungen jenseits unserer Komfortzone.
  4. Es gibt keinen Plan B:
    Die Vorstellung, dass man eine Situation erst verlassen kann, wenn klar ist, was als nächstes kommt, ist weit verbreitet. Allerdings ist damit die Stagnation oft vorprogrammiert. Denn wenn wir in einer herausfordernden Situation sind, fehlt der innere Raum, um zukünftige Alternativen zu erforschen. Wir überfordern uns schlichtweg mit dieser Annahme. Eine Neuorientierung braucht Zeit und ich bin davon überzeugt, dass du nicht wissen musst, was du willst, um etwas zu verändern. Der Weg entsteht im Gehen. Das heißt nicht, dass du gedankenlos durch die Welt stolpern sollst, sondern, dass du dich nicht von der Angst blockieren lassen sollst, ohne konkretes Ziel nicht loslaufen zu können.
  5. Gewohnheit und neuronale Bahnen:
    Unser Gehirn liebt Routinen und bekannte Muster. Sicherheitsdenken hat oft tiefe neuronale Bahnen geschaffen, die nicht leicht zu verändern sind.
    Das Verlassen dieser eingefahrenen Denkweisen erfordert bewusste Anstrengung und Ausdauer. Etwas, das unser – auf Effizienz bedachtes – Gehirn gar nicht mag. Unser Gehirn ist auf Arterhaltung ausgerichtet, nicht auf Glück oder Zufriedenheit. Jede besondere Anstrengung vermeidet es. Daher bevorzugt es den kurzfristigen Komfort, selbst wenn dies langfristig zu Unzufriedenheit führt.

Gerade in der Frage „Gehen oder Bleiben?“ ist es wichtig, die Rolle des Sicherheitsdenkens zu verstehen, um nicht aus den falschen Gründen zu bleiben. Womit sich die Frage stellt, was denn die richtigen Gründe sind.

Was will ICH wirklich?

Es ist traurig, aber wahr: Viele Menschen spüren ihre eigenen Bedürfnisse kaum oder gar nicht. Gerade in der Frage „Gehen oder Bleiben?“ ist das aber der Schlüssel zu einer Antwort. Nachfolgend einige Fragen, die auf dem Weg zur Antwort hilfreich sein können. Eine Warnung vorweg: Sich selbst besser zu spüren, seine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und für sie einzutreten ist ein Weg. Menschen, die erst am Anfang dieses Weges stehen, werden die Antwort auf diese komplexe Frage nicht durch die Beantwortung von ein paar Fragen finden. Speziell ihnen möchte ich sagen, dass der Weg Geduld und Ausdauer erfordert. Aber es lohnt sich. Die Fragen können ein guter Anfang sein.

Reflexionsfragen: Gehen oder Bleiben?

  1. Warum stelle ich mir gerade die Frage „Will ich gehen oder soll ich bleiben?“
  2. Wann habe ich mir diese Frage erstmals gestellt?
  3. Wie fühle ich mich, wenn ich an diese Veränderung denke? (z.B. begeistert, ängstlich, unter Druck)
  4. Was ist mir im Leben wichtig? (Diese Frage zielt auf deine Wertvorstellungen ab.)
  5. Welche meiner Wertvorstellungen kann ich verwirklichen, wenn ich gehe? Und welche verwirkliche ich, wenn ich bleibe?
  6. Wessen Meinung beeinflusst meine Entscheidung am meisten? Und warum gebe ich dieser Person/diesen Personen so viel Gewicht?
  7. Wer wird mich loben, wenn ich gehe?
  8. Wer wird mich loben, wenn ich bleibe? (Fragen 7 und 8 helfen dir dabei, Klarheit zu gewinnen über deine Motivation. Ist es externes Lob oder innere Zufriedenheit?)
  9. Wenn es kein Risiko gäbe und ich sicher sein könnte, dass sich die Situation durch meine Antwort auf die Frage verbessert, wie würde ich dann entscheiden?
  10. Was ist das Schlimmste, das passieren könnte, wenn ich gehe? Und wie wahrscheinlich ist es, dass dies tatsächlich eintritt?
  11. Welche Fähigkeiten oder Eigenschaften könnte ich entwickeln, wenn ich mich für eine Veränderung entscheide?
  12. Wie würde mein ideales Leben in 5 Jahren aussehen, wenn ich jetzt gehe? Und wie, wenn ich bleibe?
  13. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, welche Entscheidung würde ich mehr bereuen: gegangen zu sein oder geblieben zu sein?

Es hat sich bewährt solche Fragen handschriftlich zu beantworten. Einfach drauflosschreiben. Papier und Stift bereitlegen, den Wecker (pro Frage) auf 3 Minuten stellen und ununterbrochen schreiben. Vielleicht eine Frage pro Tag oder mehrere – definitiv nicht alle an einem Tag. Wenn bei einer Frage besonders viele Gedanken sprudeln, dann ist es auch eine gute Idee, diese Frage mehrmals zu beantworten. Die Begrenzung auf 3 Minuten und die Aufforderung einfach loszulegen, senkt die Einstiegshürde. Außerdem sind wir handschriftliches Schreiben nicht mehr so gewohnt und es kann für die Hand anstrengend sein. Probier es aus – du wirst dich wundern, was in 3 Minuten alles aufs Papier kommt.

Hier findest du noch einen weiteren Blogbeitrag, der dir bei der Wahl zwischen zwei Alternativen helfen kann: Entscheidungshilfe für schwierige Entscheidungen.

Gehen oder Bleiben? Nur du kennst die Antwort

Das Leben ist ein ständiger Prozess der Veränderung, und die Frage „Gehen oder Bleiben?“ markiert oft einen Wendepunkt in unserem Leben. Wir haben gesehen, wie tief verwurzelt unser Sicherheitsbedürfnis sein kann – geprägt durch Evolution, Erziehung und sogar epigenetische Faktoren.

Dieses Sicherheitsbedürfnis zu hinterfragen, ist nicht einfach, aber die Antwort darauf ist ein wichtiger Beitrag zum authentischen Leben. Die Reflexionsfragen in diesem Beitrag können dir dabei helfen, deine wahren Motivationen zu erkennen.

Ob du dich letztendlich fürs Gehen oder Bleiben entscheidest – wichtig ist, dass du diese Wahl bewusst triffst. Aussitzen ist möglich, aber es hat seinen Preis. Mit einer bewussten Entscheidung kannst du sicher sein, dass Du nicht aus Angst vor Veränderung Chancen verpasst oder aus falsch verstandenem Mut überstürzt handelst.

Nimm Dir die Zeit, die Du brauchst. Höre auf Deine innere Stimme. Du darfst darauf vertrauen, dass Du, egal wie Deine Entscheidung ausfällt, die Kraft haben wirst, Deinen Weg zu gehen.


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