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Zum Jammern ist es nie zu früh

Jammer doch!

Neulich abends hatten wir Besuch von einem befreundeten Paar. Inzwischen für uns ein seltenes Vergnügen, denn wir halten uns streng an die Corona-Vorgaben und eine Zeit lang war nur Besuch von Einzelpersonen möglich. An diesem Abend haben wir ziemlich ausführlich über die Corona-Lage gesprochen. Es kippte recht schnell ins Beschuldigen und Klagen: warum die Maßnahmen teilweise schwachsinnig sind, warum die Zahlen nur begrenzt aussagekräftig sind, die Politiker korrupt und realitätsfern sind undsoweiterundsofort. Im Nachhinein haben mein Mann und ich festgestellt, dass wir das sehr schade fanden. Was uns in diesen Zeiten insbesondere fehlt ist intensiver Kontakt zu anderen Menschen. Wenn wir die eng begrenzte, gemeinsame Zeit allerdings mit Jammern und Klagen verbringen, dann verhindert das genau, dass wir uns miteinander verbinden: wir bleiben an der Oberfläche. In diesem Blogbeitrag widme ich mich dem Thema Jammern.

The circle of control und das Universum des Jammerns

Es gibt ein wunderbares und einfaches Modell von Stephen Covey, das gut zu diesem Thema passt: der „circle of control“. Das ist eine Methode, mit der wir Dinge, die uns beschäftigen, ärgern oder stressen sortieren können. Im innersten Kreis ist die Sphäre der Kontrolle. Damit haben wir in der Regel kein Problem. Der nächste Kreis ist der interessanteste: der eigene Einflussbereich, also den Bereich, den wir zwar nicht kontrollieren aber beeinflussen können. Im äußeren Kreis haben wir weder Kontrolle noch Einfluss – dort beginnt das Universum des Jammerns. Die spannende Frage ist doch: wieviel wertvolle Lebenszeit wollen wir im Universum des Jammerns verbringen? Bitte nicht falsch verstehen: ich denke schon, dass Jammern eine wichtige Funktion erfüllt und einen Platz braucht, aber ich gestehe auch, dass mir Jammern auf die Nerven geht, wenn es einen großen Raum einnimmt und die Lebensfreude verdrängt.

Die Jammerstunde

Welche Funktion könnte das Jammern also erfüllen? Einerseits denke ich, dass es eine Möglichkeit ist, Frust an die Luft zu lassen. In einem sehr interessanten Artikel in der Süddeutschen Zeitung stellt Andreas Bernhard die Vermutung auf, dass es in Ländern, in denen dieses Ventil fehlt, vermehrt zu Amokläufen kommt. Es könnte auch sein, dass es eine Art Selbstschutz ist, um sich vor dem Neid der Mitmenschen zu schützen. Oder aber um sich Anforderungen der Mitmenschen vom Leib zu halten. Wer genügend über seinen übervollen Terminkalender oder Stress jammert, den belästigt man besser nicht. Jammern könnte auch dazu dienen, ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen – gemeinsames Leid verbindet ja bekanntlich. Ich persönlich würde auf diese Art des Gemeinschaftsgefühls sehr gerne verzichten. Genauso wie auf das Dauergejammer. Jammern als „Begleitrauschen der bestehenden Verhältnisse, eine Einübung ins Unausweichliche, ein Mantra der Passivität“ (Zitat aus dem o.g. Artikel) finde ich schwer auszuhalten

Gleichwohl finde ich, dass es ein Ventil braucht. Zwei Vorschläge hierzu:

  1. Eine Jammerstunde im eigenen Kalender einplanen. Einmal die Woche eine Stunde, in der Du dir alles von der Seele schreibst, was dein Leben beschwert. Vielleicht passen auch täglich 10 Minuten besser zu Deinem Rhythmus. Auf jeden Fall geht es darum, sich in einer klar abgegrenzten Zeit im Universum des Jammerns aufzuhalten und danach sich wieder anderen Dingen zuzuwenden.
  2. Auch im Umgang mit Freunden empfehle ich klare Signale: wenn Du keine Lösung suchst, sondern einfach Dampf ablassen willst, dann signalisiere das direkt und vereinbart gemeinsam eine Zeit, in der Du das Ohr und das Mitgefühl des anderen beanspruchen darfst ohne dass der Andere Dir Lösungsvorschläge unterbreitet.

Den Einflussbereich im Job ausweiten

Sabine ist Mitte 50, hat drei Kinder, die sie inzwischen kaum noch brauchen, und arbeitet Teilzeit als Sachbearbeiterin. Als die Kinder noch kleiner waren, hat der Job ihr mehr Freude gemacht. Inzwischen ist sie immer mehr genervt – über den Chef, die respektlosen Kollegen, die Sinnlosigkeit der Aufgabe. Aber weil sie ganz gut verdient und auch davon überzeugt ist, dass sie mit Mitte 50 keinen neuen vergleichbaren Job mehr findet, verharrt sie lieber im Universum des Jammerns. Über die Zeit haben sich darüber schon einige Freunde von ihr zurückgezogen, die es leid waren, sich die ewig gleichen Klagen anzuhören. Sabine kann weder den Chef noch die Kollegen wirklich ändern. Vielleicht gibt es in ihrem Unternehmen Aufgaben, die sie für sinnvoller hält. Sie könnte die Fühler danach ausstrecken und ihre Hilfe anbieten oder Aufgaben aus eigenem Antrieb übernehmen. Sie könnte die professionelle Unterstützung von einem Coach in Anspruch nehmen und herausfinden, was es ist, was sie so unzufrieden macht und welche Möglichkeiten es gibt, ihre Situation zu verbessern. Mit dem Thema berufliche Neuorientierung mit Hilfe eines Coaches habe ich mich übrigens in diesem Blogbeitrag eingehender beschäftigt.

Den Einflussbereich in einer unglücklichen Ehe ausweiten

Anna ist seit über 30 Jahren mit Stefan verheiratet und die Ehe ist seit geraumer Zeit in der Talsohle. Anna findet, dass Stefan sie gar nicht mehr wahrnimmt, nicht aufmerksam genug ist und ihre Bedürfnisse nicht ernst nimmt. Das führt zu regelmäßigen Streitereien, die damit beginnen, dass Anna sich über irgend ein Versäumnis Stefans beschwert. Obwohl es bereits unzählige dieser Streitereien gegeben hat, weicht Anna von diesem Muster nicht ab. Und es führt in schönster Vorhersagbarkeit zum immerselben Ergebnis: Frustrationen auf beiden Seiten.

Anna kann Stefan nicht kontrollieren. Ihr Einfluss beschränkt sich darauf, wie sie mit der Situation umgehen will. Ist es unerträglich für sie? Dann sollte sie gehen. Wenn sie das nicht möchte, dann kann sie sich überlegen, was sie tun kann, um die Beziehung zu verbessern. Sie könnte so tun als hätte sie eine glückliche Beziehung und sich verhalten wie eine Frau, die in einer glücklichen Beziehung lebt. Fake it until you make it! Sie könnte sich für eine bestimmte Zeit selbst ein Jammerstopp verordnen und schauen, was das bewirkt. Wenn sich in dieser Zeit nichts zum Besseren verändert, kann sie die Situation neu bewerten und nach anderen Möglichkeiten suchen, die in ihrem Einflussbereich liegen (z.B. sich professionelle Unterstützung suchen und klären, warum sie in dieser Situation verharrt).

Jammern ist eine Entscheidung – Nichtjammern auch

Das Thema Jammern triggered mich – und wann immer ich mich mit anderen darüber austausche, stoße ich auf Gleichgesinnte. Es geht mir gar nicht darum, das Jammern aus dem Leben zu verbannen. Ich finde, dass es einen Platz im Leben haben darf und soll. Es ist aber unsere Entscheidung, wie viel Raum wir dem Jammern geben wollen. Wie will ich mich in meinem Leben fühlen? Klagend, ein Opfer der Umstände oder schaffe ich es, mich auf meinen Einflussbereich zu konzentrieren und dadurch mit der Zeit, diesen Bereich immer größer zu machen? Denn dieser Bereich wird sich ausweiten, sobald wir aus der Passivität herausfinden. Wer sich allerdings nicht verändern will, der soll bitte im Universum des Jammerns bleiben. Auch das ist eine Entscheidung.

Als Coach unterstütze ich besonders gerne veränderungswillige Menschen. Falls das auf dich oder jemanden, den du kennst, zutrifft, dann sollten wir uns kennenlernen.

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Peter Epp

    Eine schöne Idee: ich wache viel zu früh auf in den Morgenstunden. Ach je, denke ich, hoffentlich bin heute nicht zu sehr übermüdet. Also gönne ich mir erst mal 10 Minuten, die angefüllt sind mit Jammern.
    Das Schöne daran: das Pulver ist womöglich verschossen. Jetzt überlege ich, wie ich gut mit mir in den Tag komme.
    Lohnt sich bestimmt ausprobieren.

    Auch interessant: Anna mit ihrem Stefan. Es macht bestimmt etwas mit ihr, wenn sie sich vorstellt, sie IST in einer glücklichen Ehe. Und dabei bleibt. Und auch ihr Stefan wird das spüren. Womöglich verändert der Jammerstop etwas zwischen diesen beiden. Jedenfalls eher, als wenn das gewohnte Jammermuster immer wieder Schatten auf diese Beziehung wirft. Es dürfte interessant werden, dies auszuprobieren.
    Besser, als dauernd zu jammern.
    Ganz bestimmt. Eine schöne Idee.

    Noch eins: Mir gefällt es gut, dass Veränderungswillige angesprochen werden.
    Bekanntlich keine leichte Aufgabe, sich zu verändern. Aber möglich. Ich rechne mich zu diesem Personenkreis. Ist einfach so.

    1. Lieber Peter,
      vielen Dank für deine Gedanken. Es ist ja interessant, auszuprobieren, wie lange wir dann tatsächlich jammern, wenn wir es uns erlauben. Schön, dass du dich zu den Veränderungswilligen zählst, denn: wo ein Wille ist, da ist bekanntlich auch ein Weg.
      Gutes Gelingen auf deinem Weg und herzliche Grüße, Korina

  2. Nicole

    Ein toller Beitrag, liebe Korina, vor allem deine vielen guten Beispiele und der Tipp mit dem zeitlich begrenzten Jammern und ggf. Aufschreiben gefallen mir sehr!
    Lieben Gruß
    Nicole

    1. Herzlichen Dank, liebe Nicole. Es freut mich sehr, wenn du etwas davon umsetzen kannst. Herzliche Grüße, Korina

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