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Wer braucht schon eine Krise in der Lebensmitte?

Dieser Text ist entstanden als Vorbereitung auf einen Impulsvortrag über „die Krise in der Lebensmitte aus spiritueller Sicht“ für das Online Netzwerktreffen Aufbruch Lebensmitte. Er war gedacht als Impuls für die nachfolgende Diskussion und basiert in weiten Teilen auf dem Buch Die Lebensmitte als geistliche Aufgabe von Anselm Grün. Der Beitrag ist eine Annäherung an die Frage, welche Veränderung in der Lebensmitte ansteht, wozu sie gut ist und wie sie gelingen kann.

Das Lebensphasen Modell nach Romano Guardini

Lebensphasen-Modelle, also die Einteilung des Lebens in verschiedene, typische Phasen, gibt es schon seit langer Zeit. Pythagoras gliederte das Leben des Menschen in vier, Hippokrates in sieben oder Aristoteles in drei Phasen ein. Mich hat das Lebensphasen-Modell von Romano Guardini besonders angesprochen. Von ihm stammt das Buch „Die Lebensalter“ – ihre ethische und pädagogische Bedeutung“. Es ist ein schmales Büchlein, knapp 90 Seiten, das 1953 erstmals veröffentlicht wurde und ursprünglich ein Kapitel aus einer Vorlesung über Grundfragen der Ethik war.

Visualisierung der 5 Lebensphasen

Die These des Buches: Jedes Alter bringt ein eigenes Erleben und spezifische Schwierigkeiten mit sich und fordert eine eigene Ethik (also die Antwort auf die Frage, wie man sich richtig verhalten soll). Guardini gliedert das Leben in 5 Phasen, die jeweils durch eine Krise voneinander getrennt sind. Jede Lebensphase ist neu, einzigartig, vergänglich und kehrt nicht wieder. Guardini sagt, dass es in jeder Lebensphase bestimmte Dinge zu lernen gibt. Das heißt nicht, dass jeder alles in jeder Phase lernt, aber eine wirklich reife Persönlichkeit hat die Lernschritte aus den einzelnen Phasen gut durchlaufen. Wir alle kennen Beispiele dafür, wo es nicht gelingt: Menschen, die mit ihren nachlassenden Kräften oder verpassten Gelegenheiten hadern und ihre Unzufriedenheit auf die Mitmenschen projizieren.

Die Krise in der Lebensmitte bahnt sich nach Guardini durch die Erfahrung des Zuviels: Zu viel Arbeit, Kampf, Verantwortung; Der Aufbau verliert seine Frische und Neuheit; Alltag und Routine werden spürbarer. Nun kann der Mensch sich entscheiden: Ernüchterung/Enttäuschung oder Bejahung des Lebens und ein neues Gefühl für den Wert des Daseins.

Gibt es die Krise in der Lebensmitte wirklich?

Der Begriff Midlife Crisis wurde von 1965 durch Elliot Jaques und sein Werk „Death and the Mid-Life Crisis“ geprägt. Es folgten zahlreiche weitere Studien. Der Durchbruch kam dann Mitte der 70er Jahre mit dem Buch der Journalistin Gail Sheehy, das ein Bestseller wurde mit über 5 Millionen verkauften Exemplaren und Übersetzung in 28 Sprachen (deutscher Titel: in der Mitte des Lebens – die Bewältigung vorhersehbarer Krisen). Es war 3 Jahre auf der Bestsellerliste der New York Times und wurde bei einer Umfrage der National Library of Congress unter die 10 wichtigsten Bücher der Neuzeit gewählt.

Die Wende kam, als die These der Krise empirisch überprüft wurde. 1995 wurde die umfangreiche MIDUS Studie in der USA durchgeführt, die ein sehr positives Bild vom Älterwerden zeichnete. Mehr noch: die Studie fand eine negative Korrelation zwischen Lebensalter und Depression. Die These von der Krise begann zu wackeln.

Die Glückskurve

Im Jahr 2008 veröffentlichten David Blanchflower und Andrew Oswald die Ergebnisse ihrer Studien „Is Well-Being U-Shaped over the Life Cycle?“. Seither ist die U-Kurve des Glücks in den Medien allgegenwärtig. Demnach ist die Krise in der Lebensmitte ein vorhersehbarer Tiefpunkt in der Lebenszufriedenheit, der im Alter von ungefähr Mitte 40 auftritt. Danach geht es wieder bergauf. Aber natürlich ist auch die Existenz dieser Glückskurve nicht unumstritten.
(Grafik: karrierebibel)

Veränderung der Lebensumstände oder existenzielle Krise?

In der Lebensmitte verändert sich vieles: die Kinder gehen aus dem Haus, die eigenen Eltern werden gebrechlich oder sterben, im Beruf gibt es vielleicht nicht mehr so viele neue Herausforderungen. Und unter Umständen treffen diese Veränderungen zusammen mit der Krise von der Guardini gesprochen hat. Die Sterblichkeit und Endlichkeit des Lebens kommt in den Blick. Es lässt sich nicht mehr leugnen, dass bestimmte Möglichkeiten nicht mehr wiederkehren oder auch manches Ziel aus früheren Jahren nicht mehr erreicht wird.

Ich bin nicht vom Fach, deshalb will ich mich gar nicht damit aufhalten, ob die Veränderungsbereitschaft in der Lebensmitte durch die existenzielle Krise ausgelöst wird oder weil die Lebensumstände sich stark verändert haben. Es ist jedenfalls leicht zu beobachten, dass die Veränderungsbereitschaft in der Lebensmitte so groß ist wie selten davor und danach. Die wenigsten Menschen verändern sich, weil sie Veränderungen so sehr lieben. In der Regel braucht es Leidensdruck, damit die Kraft für die Veränderung wachsen kann. Eines scheint klar: ohne die krisenhafte Empfindung gibt es wenig Grund zur Veränderung.

Die Lebenskrise als geistliche Aufgabe

Wenn wir die Krise der Lebensmitte als existenzielle Krise betrachten, dann geht es um die Frage nach dem Sinn und dem Wert des Lebens. Deshalb liegt es nahe, sich dieser Frage auch religiös-spirituell zu nähern. Der bekannte Benediktinermönch Anselm Grün hat ein kleines Büchlein herausgegeben: Die Lebensmitte als geistliche Aufgabe. Meine nachfolgenden Ausführungen basieren im Wesentlichen auf Anselm Grüns Buch. Darin werden die Gedanken des Mystikers Johannes Tauler und des Psychiaters C.G. Jung zu den Problemen der Lebensmitte und ihrer möglichen Bewältigung vorgestellt.

Die religiöse Antwort des Mystikers Johannes Taulers

Johannes Tauler (1300 – 1361) war Theologe, Mystiker und Prediger. Er war davon überzeugt, dass Gott in jedem Menschen dauerhaft anwesend ist. Durch Selbsterkenntnis erfahren wir, was uns an der Begegnung mit Gott hindert. Tauler sieht die Lebensmitte als Katalysator für geistliches Wachstum. Die wesentliche Frage ist für ihn, ob wir Gott für unsere Selbstverwirklichung benutzen, oder ob wir uns Gott hingeben und uns ganz von ihm führen lassen können.

Der Sinn der Krise

Tauler ist davon überzeugt, dass Gott den Menschen in die Krise führt, damit er daran wachsen kann und sich für Gott öffnen kann. Häufig erkennen die Menschen das nicht und reagieren falsch. Tauler benennt zwei Hauptfehler: die Flucht und die Verweigerung. Manche Menschen verlagern die innere Unruhe und Unzufriedenheit nach außen, damit sie sich mit der inneren Wahrheit nicht auseinandersetzen müssen. Andere halten an der gewohnten Lebensweise fest, um die Angst zu überspielen, die die Krise auslöst. Es geht um die Angst davor, dass vor Gott die Sicherheiten und Selbstrechtfertigungen nicht bestehen und das ganze Lebensgebäude einstürzen könnte. Ich finde es unglaublich, wie aktuell diese etwa 700 Jahre alte Beschreibung ist!

Ausweg aus der Krise

Als Weg aus der Krise sieht Tauler die Selbsterkenntnis. Oft weichen Menschen ihr aus, weil dadurch auch unschöne Seiten ans Tageslicht kommen. Des weiteren ist Gelassenheit notwendig: der Mensch muss vieles lassen, damit es gut mit ihm werden kann. Kurz gesagt geht es um einen inneren Führungswechsel. Weg vom Ich und hin zu Gott. Nur wenn wir wirklich bereit sind, ganz auf Gottes Führung zu vertrauen, können wir aus dieser Krise gestärkt hervorgehen.

Die Antwort des Psychologen C.G. Jung

Carl Gustav Jung (1875 – 1961) war ein Schweizer Psychiater und der Begründer der analytischen Psychologie. Jung geht davon aus, dass der Mensch sich in der ersten Lebenshälfte ein bewusstes Ich (seine Persona) ausbildet. Diese Ausbildung des Ichs führt dazu, dass andere Aspekte verdrängt werden. Diese verdrängten Aspekte bezeichnet Jung als Schatten. Er ist das Spiegelbild oder der Gegenpol des Ichs, d.h. der Schatten enthält nicht nur negative, sondern auch positive Seiten.

Jung unterscheidet zwischen 4 unterschiedlichen Bewusstseinsfunktionen: Denken, Fühlen, Intuieren und Empfinden. In der ersten Lebenshälfte nutzt der Mensch zwei dieser Funktionen, die anderen beiden werden nicht trainiert, sondern in den Schatten gedrängt. Oft werden die im Schatten liegenden Verhaltensmuster und Eigenschaften nach außen auf andere Menschen projiziert. Diese Projektion verhindert, dass uns der eigene Schatten bewusst wird und führt oft zu Konflikten mit unseren Mitmenschen. Ich stelle mir das beispielsweise so vor, dass ein Mensch in der ersten Lebenshälfte sehr stark seinen Verstand ausbildet und das Fühlen in den Schatten verdrängt. Wenn er auf einen Menschen trifft, der sehr stark das Fühlen ausgeprägt hat, nervt ihn die Gefühlsduselei, weil sie ihn mit seinem eigenen Schatten konfrontiert.

Die Krise

Nach Jung entsteht die Krise in der Lebensmitte dadurch, dass der Mensch meint, er könnte die zweite Lebenshälfte nach denselben Prinzipien leben wie die erste. Das ist aber nicht möglich, weil jetzt andere Gesetzmäßigkeiten gelten.

Was die Jugend außen fand und finden sollte, soll der Mensch des Nachmittags innen finden.

C.G. Jung

Das Unbewusste (der Schatten) drängt an die Oberfläche und führt zu einer starken Verunsicherung und Desorientierung. Diese Instabilität ist notwendig, damit der Mensch sich bewegt und die Entwicklungsaufgaben der zweiten Lebenshälfte angehen kann.

Die Aufgaben in der zweiten Lebenshälfte

Jung sieht vier Aufgaben in der zweiten Lebenshälfte:

  1. Die Relativierung der Persona
    Nachdem es in der ersten Lebenshälfte darum ging, das Ich auszubilden, einen festen Stand in der Welt zu finden und sich darin zu behaupten, geht es in der zweiten darum, sich mehr nach innen zu wenden und auf die eigene innere Stimme zu hören.
  2. Die Annahme des Schattens
    Nach Jung verläuft das Leben immer in Polaritäten (Licht-Dunkel, Mann-Frau…). Der Mensch kann nur dann ganz werden, wenn er es schafft, die Gegensätze in sich zu vereinen. Das ist kein einfacher Prozess. Nicht selten kommt es dazu, dass wir den Gegenpol nicht sehen und uns an den eingeübten Verhaltens- und Denkweisen festhalten. Wir haben Angst vor der Wandlung und verschanzen uns hinter festgefahrenen Vorstellungen. Aber auch das Gegenteil kann der Fall sein: wir werfen alles Bisherige über Bord und übernehmen die Gegenposition: Berufsänderungen, Scheidungen und andere Arten von extremen Veränderungen sind in dieser Lebensphase häufig zu beobachten.
  3. Die Integration von Anima und Animus
    Anima verkörpert das Weibliche (Schutz, Fürsorge, Geborgenheit) und Animus das Männliche (Entscheidung, Tatkraft). In der Lebensmitte geht es darum die jeweils andere Qualität bei sich selbst zu integrieren.
  4. Die Entfaltung des Selbst in der Annahme des Sterbens und der Begegnung mit Gott
    Die wesentliche Frage in der Lebensmitte ist die Haltung gegenüber dem Tod. Jung ist der Auffassung, dass die Angst vor dem Tod letztlich eine Weigerung ist, wirklich leben zu wollen. Er begründet es damit, dass der Tod zum Leben dazugehört und wir uns den Gesetzen des Lebens nicht verweigern können. So wie wir junge Erwachsene belächeln, die sich weigern, erwachsen zu werden, müssten wir eigentlich auch ältere Menschen belächeln, die an der Jugend festhalten.
    Interessanterweise hat bereits Jung festgestellt, dass die Menschen in der Lebensmitte nicht auf die Anforderungen der zweiten Lebenshälfte vorbereitet sind. Er findet, dass es dafür eigentlich eine Schule für die zweite Lebenshälfte bräuchte . Früher war das die Religion – und sie ist es immer noch. Aber in einer zunehmend verweltlichten Gesellschaft, wird diese Schule immer bedeutungsloser. Jung ist jedenfalls davon überzeugt, dass der Mensch sich nur dann voll entfalten kann, wenn er das Göttliche in sich erfährt. Es geht also darum, dass der Mensch in der Krise der Lebensmitte die Chance hat, sich Gott zuzuwenden und sich durch diese Erfahrung verwandeln zu lassen: der Mensch soll sich von Gott berühren lassen und sich dadurch mit sich selbst und der Welt versöhnen.

Fazit

Mir hat die Beschäftigung mit dem Sinn der Krise in der Lebensmitte wertvolle Einsichten beschert. Es geht in dieser Phase nicht mehr um höher-schneller-weiter, sondern um die Vertiefung und die Auseinandersetzung mit unserer eigenen Endlichkeit. Wenn die Älteren hauptsächlich beweisen wollen, dass sie mit den Jungen noch Schritt halten können, dann geht der Gesellschaft insgesamt etwas Wesentliches verloren. Die Jüngeren verlieren die Vorbilder dafür, dass das Leben im Alter eigene Schätze bietet, die es bis ganz zum Schluss zu heben gilt.


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