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„So findest du deinen Lebenssinn“-Beiträge nerven mich

Ich beschäftige mich schon länger mit dem Thema Berufung und Sinn – vor allem interessiert es mich, wie man den Sinn im Leben findet. Es soll ja Menschen geben, die wissen schon im Kindergarten, dass sie den Arztberuf ergreifen wollen. Ich gehöre definitiv nicht zu dieser Sorte.
Eins vorweg: Berufung und Sinn gehen Hand in Hand. Ich hatte bereits mit 16 Jahren meine erste Sinnkrise und immer wieder gibt es Phasen, in denen mir meine Sinn-Gewissheit abhandenkommt. Deshalb nervt es mich, wenn ich immer wieder über Blogbeiträge stolpere, die suggerieren, dass du in 3, 5 oder x Schritten deinen Lebenssinn oder deine Berufung finden kannst. Warum ich das für Quatsch halte, darum geht es in diesem Beitrag.

Die Sinnsuche hat Konjunktur – und einfache Lösungen auch

Professorin Tatjana Schnell erforscht den Sinn empirisch. In Studien aus den Jahren 2015 bis 2018 hat sie herausgefunden, dass mehr als drei Viertel der Deutschen über den Sinn nachdenken.
Kein Wunder, dass es im Internet dazu unzählige Beiträge darüber gibt. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage greift auch hier. Und weil es gut für die Klickraten ist, gibt es eben auch viele Überschriften in der Art: „Mit x Fragen den Sinn im Leben finden“. Das regt mich auf, weil es suggeriert, dass Sinnsuche so einfach wie Pudding-Kochen wäre. Ist es nicht. Die Fragen sind gewiss richtig, aber die Antworten oft leider nicht so einfach.

IKIGAI als Beispiel für eine verkürzte Darstellung

Wörtlich übersetzt ist IKI das Leben und GAI der Sinn oder Nutzen. IKIGAI ist eine japanische Philosophie, die dabei hilft, Erfüllung, Freude und Achtsamkeit im Leben zu finden. Wenn du im Internet danach suchst, kommst du man unweigerlich auf ein Diagramm mit 4 Fragen. Auch ich habe dieses Diagramm in meinem Beitrag über IKIGAI genutzt. Aber IKIGAI ist viel mehr als dieses Diagramm und die 4 Fragen! Es ist eine ganze Philosophie und das Diagramm ist nur ein kleiner Ausschnitt daraus.

Zitat von Motoki Tonn über den Unsinn des Venn-Diagramms als Erklärung für IKIGAI

Den Sinn des Lebens zu finden ist ein längerer Prozess

Interessant ist es, dass die Sinnfrage derzeit Konjunktur hat. Noch einmal Zahlen von Tatjana Schnell. Vor fünfzehn Jahren gaben in einer repräsentativen Befragung lediglich etwa 30 Prozent an, keinen Sinn im Leben zu haben – und dass sie das nicht stört. Das sind deutlich weniger als in den Jahren 2015-2018. Man kann darüber nachdenken, warum das so ist. Vielleicht braucht es in unsicheren Zeiten einen individuellen Leitstern?

Schon die alten Griechen haben sich über den Sinn des Lebens Gedanken gemacht und seit dieser Zeit noch unzählige Philosophen. Es gibt nicht die eine Antwort. Vielmehr setzt die Antwort gute Selbstkenntnis voraus, denn so unterschiedlich die Menschen sind, so unterschiedlich fallen auch die Antworten aus.

Der Sinn im Leben ist individuell und ändert sich über die Zeit. In jeder Umbruchphase, also z.B., wenn die Kinder aus dem Haus gehen oder die Beziehung in die Brüche geht, verschwindet ein Teil der Antwort. Die gute Nachricht ist, dass der Mensch in der Lage ist, neue Antworten zu finden – bis ins hohe Alter. Dabei können die Fragen in diesen kochrezeptartigen Beiträgen helfen. Ob jemand tatsächlich in der Lage ist, im Selbststudium so einen Prozess zu durchlaufen, hängt von der Persönlichkeit ab. Ich denke, dass die Mehrheit der Menschen das nicht durchhält und es mit Unterstützung leichter geht. Denn eines weiß ich aus eigener Erfahrung: Sinnsuche ist ein längerer Prozess und nicht alles, was man auf der Suche findet, macht glücklich.

Grafik mit vier Strichmännchen und Glühbirnen mit Unterschrift "Sinn Finden = Prozess"

Den Sinn des Lebens finden: Eine Stoffsammlung

Hier ein paar Beiträge mit Anregungen, wie du den Sinn des Lebens für dich finden kannst. Sie enthalten teilweise wertvolle Anregungen. Oft sind die Anregungen zwar wertvoll, aber im täglichen Leben nicht umsetzbar. Ein Beispiel: wenn du deine Berufung suchst, dann überlege dir, was du wirklich gerne tust. Sollte ja nicht so schwer sein. Aber wie kommst du durch diese Antwort zu deiner Bestimmung? Nicht alles, was ich gerne tue, folgt einem höheren Plan. Ich schaue gerne bestimmte Fernseh-Serien zur Entspannung. Mit Bestimmung hat das nichts zu tun.

Ein anderes Beispiel ist die Empfehlung, zu meditieren oder Zeiten der Stille zu suchen. Zweifelsohne hilft bei der Sinnsuche, wenn du Zeiten der Stille mit dir hast. Denn ohne die Ablenkung durch die alltägliche Geschäftigkeit, kannst du klarer sehen. Ganz so wie du an einem klaren, windstillen Tag im Spiegelbild eines Sees die Umgebung sehr deutlich erkennen kannst. Aber wie schaffst du es, dir diese Stille zu nehmen? Die Theorie-Praxis-Lücke ist nicht so mal eben zu überwinden. Das ist es genau, was mich an solcherlei Ratschlägen nervt. Ich liste nachfolgend einige der Beiträge unkommentiert auf. Menschen sind unterschiedlich und die Beiträge enthalten wirklich wertvolle Anregungen. Was für den Einen wertvoll ist, spricht unter Umständen einen Anderen überhaupt nicht an. Die Beiträge können als Anregung dienen. Wichtig ist mir der Hinweis, dass die Suche nach dem Sinn des Lebens nicht in Formeln oder feste Schemata gepresst werden kann. Ich stimme dem Philosophen Wilhelm Schmid zu, dass der Sinn individuell konstruiert wird und überall dort entsteht, wo eine starke Beziehung entsteht. Das kann Liebe, Familie, Freundschaft, Natur, Kultur, Gott oder etwas anderes sein.

Sinnsuche liefert keine schnellen Antworten, aber die Suche lohnt sich

Ich finde es gut, dass sich mehr Menschen mit dieser wichtigen Frage beschäftigen. Denn ich bin davon überzeugt, dass es eine gute Übung ist, sich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens auseinanderzusetzen. Jedes Mal, wenn wir eine Antwort darauf finden, macht uns das zufriedener. Wir lernen bei diesem Prozess, dass es keine allgemeingültige Antwort gibt und dass Sinnbezüge sich im Laufe der Zeit verändern.

Aus meiner persönlichen (wissenschaftlich nicht belegten) Sicht ist eine Antwort auf die Sinnfrage ein wirksames Mittel gegen Unzufriedenheit und depressive Verstimmtheiten. Auch wenn ich viele Beiträge nicht geeignet halte, um wirklich die Antwort auf die Frage nach dem Sinn im Leben zu finden (Theorie-Praxis-Lücke), so enthalten sie doch vielfältige Anregungen und können eine Hilfe auf dem Weg sein.

Warum mich die Beiträge dennoch aufregen? Ich finde sie nicht integer. Sie suggerieren, dass es schnelle oder einfache Antwort gibt. Ich befürchte, dass Menschen sich dadurch von der Sinnsuche abwenden – bringt ja doch nichts. Das finde ich sehr, sehr schade. Denn in jeder Lebensphase stellen sich Sinnfragen neu. Sei es nach dem Schulabschluss, bei der Familiengründung, wenn die Kinder das Haus verlassen: immer wieder verändern sich die Antworten bei der Sinnsuche. Wenn wir uns daran gewöhnen, uns mit dieser Frage zu beschäftigen, werden wir insgesamt zufriedenerer und sogar gesünder durchs Leben gehen. Oder wie es dieses Zitat von Friedrich Nietzsche ausdrückt: Wer ein Warum hat zu leben, erträgt fast jedes Wie.“


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Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Marita

    LIebe Korina, vielen Dank für Deinen Kommentar auf meinem Blog, Deine Wertschätzung und Deine Ermutigung. Ich finde diesen Blogartikel von Dir unglaublich toll. Ich mag Deinen durchaus kritisch-skeptischen Geist. Der Satz“ Das regt mich auf, weil es suggeriert, dass Sinnsuche so einfach wie Pudding-Kochen wäre. Ist es nicht. Die Fragen sind gewiss richtig, aber die Antworten oft leider nicht so einfach.“ könnte auch von mir sein. Ich bin all diese Schritte-Anleitungen so was von leid!! Die Sinnfrage stelle ich mir, seit ich im Berufsleben bin und ich weiß nicht, wie viele (durchaus sehr kostspielige) Berufungs-Coachings ich gemacht habe und durch wie viele Persönlichkeits-Tests ich versucht habe, mir selbst auf die Schliche zu kommen. Die Sätze „folge der Freude“ oder alternativ „… deinem Herzen“ sind zwar im Kern richtig, aber wie, bitteschön, setzt man das im schnöden Alltag um? Ich sehe schon, dass wir gemeinsam einen Tag lang darüber philosophieren könnten (was für eine wunderbare Aussicht ;-)) weil das Thema heute viel präsenter ist als vor 30 Jahren. Da war es einfach wichtig, einen „sicheren“ Job zu bekommen. Damals gab es sie noch 😉

    Gruß, Marita

    1. Liebe Marita,
      ich kann das so gut nachfühlen, was du schreibst, denn genau so habe ich es auch empfunden. Ich habe tatsächlich länger darüber nachgedacht, ob ich das Thema „Berufung“ in meine Positionierung aufnehme, weil ich dachte, dass ich da etwas verspreche, das ich nicht kurzfristig einlösen kann. Ich habe es jetzt drin, weil es mir letztlich darum geht, Menschen auf dem Weg zu begleiten in ein sinnerfülltes Leben. Das große Missverständnis scheint mir zu sein, dass es EINE Berufung gibt und die dann den ganzen Tag am Werk ist. Für die meisten Menschen ist es differenzierter und neben dem Bedürfnis nach Sinn gibt es noch andere, z.B. Sicherheit, wie du richtigerweise anmerkst. Ich freue mich sehr darauf, dich persönlich kennenzulernen. Schon der schriftliche Austausch mit dir – und deine Blogbeiträge – inspirieren mich sehr.

      Herzliche Grüße, Korina

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