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Was ist der Unterschied zwischen Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung?

Geht’s nur mir so oder regt Dich der allgegenwärtige Selbstoptimierungswahn auch auf? Besonders bei berufstätigen Müttern mit kleinen Kindern beobachte ich wie sie unter diesem Druck schier zusammenbrechen. Und dabei das Wesentliche nicht mehr genießen können: das Staunen über das Wunder des heranwachsenden Lebens. In diesem Blogbeitrag betrachte ich die Selbstoptimierung genauer: was macht sie aus und was ist der Unterschied zur Selbstverwirklichung?

Selbstoptimierung – eine Definition

Wikipedia ist in der Regel meine erste Anlaufstelle, wenn es um Definitionen geht. Aber, welch Überraschung: der Begriff Selbstoptimierung, der in den sozialen Medien scheinbar allgegenwärtig ist, hat keine Definition in Wikipedia. Der Duden definiert es als jemandes [übermäßige] freiwillige Anpassung an äußere Zwänge, gesellschaftliche Erwartungen oder Ideale u. Ä. Das hört sich für meine Ohren für eine Definition schon ziemlich wertend an – auch das finde ich überraschend. Zudem ist es mir für diesen Beitrag zu wenig. Ich wurde fündig auf dem Selbstoptimierungs-Blog (ja, auch so etwas gibt es!) von Judith Braun.

Prozess, sich einem Zielzustand anzunähern, indem das zu verbessernde Verhalten in regelmäßigen Abständen erfasst wird, um den Fortschritt oder Rückschritt zu messen, und dann entsprechend angepasst wird.

Judith Braun
Selbstoptimierung mit Technik
„Old School“ Selbstoptimierung

Fünf Gründe warum wir uns selbst optimieren

1. Gesellschaftlicher Druck

Selbstoptimierung ist allgegenwärtig und ein aktuelles Leitbild, sagt z.B. Dagmar Fenner in einer Veröffentlichung der Bundeszentrale für Politische Bildung. Dazu passt die DUDEN-Definition wunderbar: wir optimieren uns, weil die Gesellschaft es von uns erwartet.

2. Wir optimieren uns, weil wir die technischen Möglichkeiten dazu haben

Das Verhalten der Menschen folgt den technischen Möglichkeiten. Das behaupte ich jetzt einfach mal. Erst durch die einfache Handhabung von Schrittzählern, Pulsmessern, Körperfettwaagen etc. ist die Vermessung und Optimierung des Selbst überhaupt möglich geworden.

3. Selbstoptimierung als Mittel gegen Kontrollverlust

Schließt sich direkt die Frage an, warum sich diese Tendenz denn in der Gesellschaft so durchsetzen konnte. Letztendlich besteht die Gesellschaft ja aus einzelnen Menschen, d.h. es muss etwas geben, was viele Menschen dazu bewegt, nach Selbstoptimierung zu streben.
Für mich scheint es plausible, dass Selbstoptimierung eine Antwort auf eine zunehmend erlebte Orientierungslosigkeit und Ohnmacht ist. Wir haben heute mehr Entscheidungsmöglichkeiten denn je. Wir müssen nicht heiraten und Familie gründen, wir können studieren oder eine Ausbildung machen, mit work&travel auf Weltreise gehen oder etwas ganz anderes. Gleichzeitig sind wir immer mehr auf uns selbst zurückgeworfen in diesem großen Entscheidungsraum. Die Geländer sind weggebrochen, aber die Abgründe sind weiterhin da. Jeder muss selbst darauf achten, dass er nicht die Böschung runterfällt.
Trotz aller Messbarkeit ist die Zukunft aber nach wie vor ungewiss und das Leben bleibt nach wie vor lebensgefährlich. Nur dass wir neuerdings den Eindruck vermittelt bekommen, dass wir – mit der richtigen Einstellung und Technik – unser Leben eben doch kontrollieren könnten. In dieser Gemengelage erscheint die Selbstoptimierung wie ein Ausweg: wenn wir schon die Welt nicht kontrollieren können, dann wenigstens einen kleinen Ausschnitt unseres Selbst (das Gewicht, die Fitness, die Merkfähigkeit …..).

4. Stärkung der Selbstwirksamkeit

Wenn wir einen Bereich von uns selbst verbessern, treffen wir eine bewusste Entscheidung für uns selbst. Nehmen wir an, ein stark übergewichtiger Mensch möchte abnehmen und nimmt in der Folge tatsächlich viele Kilos ab. Die Umwelt reagiert darauf mit Lob und Anerkennung. Das fühlt sich gut an. Und – noch wichtiger – dieser Mensch hat sich selbst bewiesen, dass er durch eigene Kraft etwas erreichen kann. Dieses Erfolgserlebnis und die Verstärkung des Gefühls durch die Rückmeldungen erfüllt den Menschen mit Stolz und Zufriedenheit und steigert vermutlich auch sein Selbstwertgefühl.

5. Rückwirkung auf andere Bereiche

Stell Dir einmal den Menschen aus dem vorherigen Absatz vor. Sein Selbstwertgefühl ist gestiegen und nun denkt er: wenn ich das geschafft habe, kann ich auch alles andere schaffen. Dieses eine große Erfolgserlebnis hat bewirkt, dass er Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gefasst hat und wieder an sich selbst glauben kann. Dieser Glauben an sich selbst wird dazu führen, dass er nun auch ganz andere Themen angehen kann.
Der Glaube daran, dass wir etwas schaffen können, gibt uns den Mut, über ein Vorhaben zu sprechen. Und dieses Sprechen darüber führt wiederum zu Verstärkungen von aussen. Insofern befeuert jedes geglückte Veränderungsvorhaben das nächste.

Was ist auszusetzen an der Selbstoptimierung?

Selbstoptimierung erzeugt Stress

Wie so oft, so spielt auch bei der Selbstoptimierung die Haltung, aus der heraus wir uns selbst optimieren, die wesentliche Rolle. Wenn wir uns optimieren, um einem gesellschaftlichen Ideal zu entsprechen, führt das ziemlich sicher zu Stress. Die vermeintliche Anforderung von außen erzeugt den Druck, weil wir nicht mit dem Herzen dabei sind. Ich sage nichts Neues, wenn ich feststelle, dass Menschen unglaubliches leisten können, wenn es ihr tiefes inneres Bedürfnis ist. Wir sind gestresst, weil wir einer äußeren Norm entsprechen wollen.

Wer sich dazu zwingt, sich jeden Tag zu vergegenwärtigen, was er jetzt eigentlich gerade in diesem Moment tun sollte, hat den ganzen Tag tollere Ichs in der eigenen Wohnung rumstehen….. Plötzlich kann man sich in jedem Alltagsmoment als Versager fühlen.

Sophie Passmann im ZEIT Magazin No. 16, 2021

Effizienz- und Produktivitätssteigerungen werden dem menschlichen Leben nicht gerecht

Ursprünglich stammt die Technik des Optimierens aus dem technisch-ökonomischen Bereich. Für Unternehmen ist es wichtig, das optimale Verhältnis zwischen Input und Output zu finden, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Forderung nach Effizienz- und Produktivitätssteigerungen unreflektiert auf die menschliche Lebensführung zu übertragen, macht unser Leben ärmer. Ein Beispiel: seit Wochen versuche ich mit einer langjährigen Freundin zu telefonieren. Immer ist irgend etwas wichtiger: Sport, eine Weiterbildung, Erschöpfung. Nun haben wir endlich einen Termin gefunden. Ganz beglückt schreibt sie mir, dass sie mich vom Handy aus anrufen wird, weil sie diese Zeit dann gleich noch für einen Spaziergang nutzen wird. Kann man so machen – und vielleicht wird es sogar gut. Vielleicht werden wir uns aber gar nicht wirklich aufeinander einlassen können, weil Funklöcher und Windgeräusche das Gespräch erschweren.

Wer nicht optimiert wird als Versager betrachtet

Wie denken wir selbst eigentlich über Menschen, die sich im Schatten unserer Gesellschaft aufhalten? Mal ganz ehrlich! Könnte es nicht sein, dass wir insgeheim denken, dass Menschen, die nicht so viel leisten, sich einfach nicht genug anstrengen? Wer in mittleren Jahren arbeitslos wird und auch nach langer Mühe keinen Job mehr findet, der hat eben nicht genügend genetzwerkt und sich nicht ausreichend weitergebildet. Wer krank wird, hat nicht genügend Sport getrieben oder sich ungesund ernährt. Diese pauschale Abwertung finde ich sehr bedenklich, denn sie basiert auf simplen Ursache-Wirkungszusammenhängen. Das Leben ist meistens komplexer und funktioniert eher systemisch als linear.

Selbstverwirklichung statt Selbstoptimierung

Dem aufmerksamen Leser ist vielleicht aufgefallen, dass es einen Grund zur Selbstoptimierung gibt, der oben nicht genannt ist. Es gibt ein Bedürfnis nach persönlichem Wachstum. Es gibt Menschen, die eine tiefe Befriedigung dabei empfinden, hohe Maßstäbe an sich selbst anzulegen und Gutes in die Welt zu bringen. Laut DUDEN meint Selbstverwirklichung die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit durch das Realisieren von Möglichkeiten, die in jemandem selbst angelegt sind.

In der Maslowschen Bedürfnispyramide steht das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung ganz oben an der Spitze. Selbstoptimierung sehe ich deshalb nicht als Gegensatz zur Selbstverwirklichung. Vielmehr kann das Bedürfnis nach persönlichem Wachstum durch Optimierungstechniken erfüllt werden.

Die 5 stufige Bedürfnishierarche nach Maslow (von unten nach oben): Physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürnisse, Soziale Bedürfnisse, Individulabedürfnisses, Selbstverwirklichung
Maslows Bedürfnishierarchie als Pyramide dargestellt
Quelle: PNG by Philipp Guttmann, SVG by Jüppsche, Public domain, via Wikimedia Commons

Fazit

Durch das Schreiben des Beitrags hat sich meine Haltung zur Selbstoptimierung geklärt:

  • Selbstoptimierung hilft mir, mein Bedürfnis nach persönlichem Wachstum zu erfüllen.
  • Selbstoptimierung ist kein Zwang, sondern freiwillig. Es gibt Zeiten, in denen ich kein Bedürfnis nach Wachstum verspüre – auch in der Natur gibt es die Zeiten des Wachsens und des Ruhens.
  • Jeder darf genau hinschauen und prüfen, ob es wirklich die eigenen Motive sind oder es lediglich darum geht, gesellschaftliche Vorstellungen zu erfüllen und die Angst davor, als Mensch mit Ecken und Kanten erkannt zu werden.
  • Nicht zu vergessen, dass das Leben unvorhersehbar ist und wir nicht alles in der Hand haben. Die Bewertung von Mitmenschen als Versager dient vielleicht nur dazu, meine Machbarkeitsillusion aufrecht zu erhalten und davon abzulenken, dass es mich jederzeit auch treffen kann und ich nichts dagegen tun kann.

Du fühlst dich von Selbstverwirklichung angesprochen, weißt aber noch nicht wie du es angehen kannst?

Dann lass uns reden. Im kostenlosen Kennenlerngespräch können wir schauen, ob die Chemie stimmt und wie die Zusammenarbeit aussehen kann. Am besten buchst du dir gleich deinen Termin.

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